Vor der Sontag-Rede

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Mit Friedenspreisträgerin Susan Sontag ehrt das "alte" Europa eine "gute" Amerikanerin. Auch Sontags neuer Essay über Kriegsfotografie ist bestechend aktuell.

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Mit Friedenspreisträgerin Susan Sontag ehrt das "alte" Europa eine "gute" Amerikanerin. Auch Sontags neuer Essay über Kriegsfotografie ist bestechend aktuell.

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Am kommenden Sonntag in der Frankfurter Paulskirche will sie eine "provokante Rede" halten: Susan Sontags Ankündigung, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nicht den Mund zu halten, gehört zum Selbstverständnis der 70-jährigen Schriftstellerin, deren scharfe Worte seit jeher die Adressaten spalten: 2001, als sie den renommierten Jerusalem-Preis entgegennahm, empörte sie mit heftiger Kritik an der Besatzungspolitik des Staates Israel. Nach Sontags Reaktion auf die Kommentierung des 11. September 2001, die sie als eine Kampagne von Politikern und Medien mit dem Ziele, die Öffentlichkeit zu verdummen, bezeichnete, schrieb das US-Magazin The New Republic: "Was haben Osama Bin Laden, Saddam Hussein und Susan Sontag gemeinsam? - Alle drei wollen Amerika zerstören."

Die Wahl Sontags zur Friedenpreisträgerin ist eine politische Botschaft: Sozusagen postwendend zu Rumsfeld & Co, die Europa in ein böses "Old Europe" und ein gutes "New Europe" einteilten, ehrt das alte Europa eine gute alte Amerikanerin. Dass die forschen Krieger, die das US-Desaster im Irak angezettelt haben, nun ihrerseits ganz alt aussehen, wird wohl auch Gegenstand der Sontag-Rede in Frankfurt sein.

Susan Sontag, 1933 in New York geboren, studierte in Chicago, Oxford und Berkeley Philosophie, Französisch und Literatur. Ihre Dissertation schrieb sie in Harvard beim protestantischen Theologen Paul Tillich in Philosophie, danach beschäftigte sie sich in Paris mit dem Existenzialismus. Sie begann Vorlesungen in Englisch und Philosophie zu halten und gilt als Vermittlerin europäischer Literatur.

Seit den sechziger Jahren hat Sontag vier Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke geschrieben, für ihren Roman "In America" erhielt sie 2000 den National Book Award. Sie führte in Filmen und am Theater Regie und ist Autorin zahlreicher Essays. Obwohl sie sich selbst als Romanautorin sieht, haben ihre kulturkritischen Essays die größte Breitenwirkung erzielt.

Auch Susan Sontags neuestes Buch "Das Leiden anderer betrachten" ist ein Essay und setzt sich mit der Kriegsfotografie auseinander. Sontag hat bereits vor 25 Jahren in "Über Fotografie" über die festgehaltenen Bildern geschrieben, sie rekurriert auch im neuen Buch auf diesen Essay. Das Genre Kriegsfotografie ergibt sich zum einen aus der unmittelbaren Zeitgeschichte, in der mit Kriegsbildern Propaganda und Politik gemacht wird. Zum anderen kann man sich aber fragen, ob nicht das Fernsehen viel mehr als die Fotografie die Bilderflut bestimmt, und ob ein Sontag-Essay sich nicht vornehmlich damit beschäftigen sollte.

Die Kulturkritikerin spart die TV-Bilder aber keineswegs aus, beginnt aber dennoch konzis, die Geschichte der Kriegsbilder zu analysieren - unter anderem vom Vorläufer Francisco Goya, dessen Radierungen "Los Desastres de la Guerra" das Elend der Napoleonischen Kriege festhielten, über einen Essay von Virginia Woolf aus den dreißiger Jahren bis zu den bekanntesten Kriegsbildern der letzten Jahrzehnte.

Geradezu bestechend, wie Sontag es schafft, ohne ein einziges Foto abzubilden dennoch über das Grauen und die Ambivalenz der Kriegsfotografien zu schreiben: Das berühmte Bild von Robert Capa, das einen sterbenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg zeigt, erscheint ebenso vor dem Auge des Lesers wie das berühmte Foto aus dem Vietnamkrieg, auf dem ein südvietnamesischer Polizeichef einen angeblichen Vietcong-Kämpfer vor der Kamera erschießt.

Susan Sontag ist es dabei auch um eine Blickschärfung zu tun: Die Bilder, von denen sie schreibt, haben auch einen Kontext - und zeigen viel mehr als das, was sie zeigen. Dabei führt Sontag die Leser auf die Spur des Zweifels - sie fragt, ob Capas berühmtes Foto überhaupt echt oder ob es gestellt ist, sie macht klar, dass etwa die Bilder der Leichenberge, wie sie von den KZ-Befreiern in die Welt geschickt wurden, wenig, wirklich wenig tatsächlich von den KZs erzählen.

Diese Bögen spannt Sontag bis in die Gegenwart von Golf- und Balkankriegen - und zeigt einmal mehr, wie vielschichtig die Konsequenzen sind, die das in Bild(er) gegossene Leiden bei den Betrachtern auslöst, und wie notwendig eine ausführliche Reflexion darüber ist.

DAS LEIDEN ANDERER BETRACHTEN.

Von Susan Sontag. Aus dem Engl. von Reinhard Kaiser. Carl Hanser Verlag, München 2003. 152 Seiten, geb., e 16,40

TV-TIPP: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Verleihung an Susan Sontag. Übertragung aus der Frankfurter Paulskirche .

Sonntag, 12. September, 11.00, ARD

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