Ziel: "Eretz Israel"

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Im Jahr 2000 tauchten Papiere auf, die das jüdische Leben in Wien dokumentieren. Das Jüdische Museum Wien zeigt nun eine Auswahl.

Eine Reihe von Aktendeckeln, grün, grau, beige: Auschwitz steht da. Theresienstadt. Minsk. Izbica. Das war der erste Fund, den die Mitarbeiter der Israelischen Kultusgemeinde (IKG) machten: die Deportationslisten, die die Kultusgemeinde 1941 zu erstellen gezwungen war. "Da war uns klar: Das ist eine sensationelle Entdeckung. Und da muss noch mehr sein." Der Sensationsfund, von dem Lothar Hölbling, Leiter des Archivs der Anlaufstelle der IKG spricht, ist bereits sieben Jahre her: Im Jahr 2000 wurde in einem Zinshaus der Kultusgemeinde, das verkauft werden sollte, ein Aktenberg gefunden. "Stapelweise Kisten, bis an die Decke" - und darin Papiere, die längst vergessen waren.

Von österreichischen Medien blieb die Entdeckung weitgehend unbemerkt, erst nach einem Bericht in der New York Times reagierte die Presse auf den Fund. Nun wird ein Teil unter dem Titel "Ordnung muss sein" im Jüdischen Museum Wien behutsam präsentiert.

Flüchtlingsanträge, Pässe

Die Dokumente, die sich in den unscheinbaren Umzugskartons befanden, sind eine höchst heterogene Ansammlung von Material vom ausgehenden 19. Jahrhundert über Akten aus der NS-Zeit bis hin zu Papieren aus den frühen achtziger Jahren. Bei einer der zahlreichen Übersiedlungen der Kultusgemeinde dürfte das Material aussortiert und im Zwischenlager schlicht vergessen worden sein. Wider Erwarten fanden sich zahlreiche Dokumente über die Deportation von jüdischen Wienern, Flüchtlingsanträge, Pässe, persönliche und amtliche Briefe. "Das ist der Schlüssel zu vielem anderen Material, das wir in Wien und im Dokumentationszentrum in Jerusalem haben", erklärt Ingo Zechner, Kurator der Ausstellung.

Das alte Archiv der Kultusgemeinde, gegründet bereits 1816, befindet sich nur zum Teil in Wien. Es ist das weltweit größte erhaltene Archiv einer jüdischen Gemeinde. Die Kultusgemeinde Wien bestand bis 1942 weiter und organisierte ab 1938 die Flucht zehntausender Jüdinnen und Juden, ab Februar 1941 war sie zwangsweise in die Deportation der verbliebenen jüdischen Bevölkerung eingebunden. Die Archivbestände, die diese Zeit betreffen, werden in Jerusalem aufgearbeitet, im Central Archive for the History of the Jewish People. Das Material, das nun wiedergefunden wurde, wird aber in Wien bleiben. Seit 2002 werden die rund 500.000 Seiten mikroverfilmt, dies ist weitgehend abgeschlossen. So wird der Fund auch für Forscher in Jerusalem und im Holocaust Memorial Museum in Washington zugänglich gemacht. Mittlerweile konnten schon etliche Fragen zu Restitutionen durch die neuen Erkenntnisse geklärt werden. Nachkommen von Wiener Juden, die in aller Welt zerstreut leben, nutzen das Material zur Familienforschung und erhalten Unterstützung bei Ansuchen um Entschädigungen.

Die teils mottenzerfressenen Papiere umreißen nicht nur die Unterdrückung, sondern vor allem ein Bild des jüdischen Lebens in Wien. Die Kuratoren der Ausstellung geben zu, dass es schwierig war, eine Auswahl zu treffen. Das kompliziert klingende Konzept einer Ordnung nach zwölf verschiedenen Formaten und zwölf verschiedenen Themen erschließt sich während der Ausstellung aber ganz logisch und wirkt, so fragmentarisch es ist, durchaus schlüssig. Zwischen Unterrichtsmaterial, Bittbriefen, Verordnungen und Feldpostkarten findet sich da auch ein kurzer amtlicher Brief des Herrn Professor Sigmund Freud an die Kultusgemeinde über die Höhe der zu entrichtenden Kultussteuer. Direkt daneben ein Prospekt der Firma Friedrich Siemens aus dem Jahre 1886, der Heizapparate anpreist.

"Pläne nach der Ausreise?"

Teil der Ausstellung ist auch eine Installation des Künstlers Arnold Dreyblatt. Auf Flachbildschirmen laufen unentwegt Flüchtlingsformulare in einen Karteikasten hinein, viel zu schnell, um tatsächlich lesbar zu sein. "Ausreisewunsch: U.S.A." steht da. Oder: "Nord-oder Südamerika". Oder: "Egal, Hauptsache es gibt Arbeit." Oder: "Eretz Israel". Jeder ausgefüllte Fragebogen eine Geschichte. Auf die Frage "Pläne nach der Ausreise" steht oft genug keine Antwort da. Auch diese Fragebögen waren unter dem wiedergefundenen Material.

In Wien gibt es bislang nicht die geeignete Einrichtung, um das gesamte Material einem öffentlichen Publikum zumindest auf Mikrofilm zugänglich zu machen. Mit dem Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (vgl. auch Furche Nr. 24/06) soll sich das ändern: Das Institut, das noch vom 2005 verstorbenen Simon Wiesenthal persönlich konzipiert worden war und das seinen Nachlass aufarbeiten wird, soll sich auch mit den Papieren aus dem Fund der Kultusgemeinde befassen. In Zusammenarbeit mit Gastforschern aus aller Welt sollen internationale Forschungsprojekte Fragen zu Antisemitismus, Rassismus und Holocaust beantworten. Das Institut ist zurzeit noch in Planung, die Entscheidung über den Baubeginn wird noch im Sommer erwartet.

ORDNUNG MUSS SEIN. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

Jüdisches Museum Wien, Dorotheergasse 11, 1010 Wien ( www.jmw.at)

Bis 21. Oktober täglich außer Samstag 10-18 Uhr

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