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„Boris“ in der B-Fassung

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Da die Wiener Staatsoper eines der interessantesten und wichtigsten Werke der neueren Opernliteratur seit 1947 nicht mehr neuinszeniert und auch die alte Inszenierung nicht ins neue Haus am Ring übernommen hat, ist es ebenso verständlich wie begrüßenswert, wenn sich die Intendanz der Wiener Festwochen gemeinsam mit der Konzerthausgesellschaft des „Boris Godunow“ annimmt. ‘ Zwar konnte man Mussorgskys Oper nicht szenisch aufführen, dafür aber wurde sie in russischer Sprache und in der Urfassung (genauer: in Mussorgskys zweiter Originalbearbeitung) und in einer so glanzvollen Besetzung dargeboten, wie man sie selten auf einer Opernbühne findet. Hierbei erwies sich, daß „Boris“, das Werk eines genialen Autodidakten, der Bühne picht unbedingt bedarf und auch in der konzertanten Form allerstärkste Wirkung auszustrahlen vermag.

Das ist eine Partitur für Musiker und Musikfreunde! Und es ist durchaus verständlich, daß ihr Ruhm zunächst von Fachleuten verkündet wurde. Als Mus- sorgsky 1881 starb, waren seine Kompositionen nur in Rußland — und nur sehr sporadisch — bekannt. Für den Westen hat ihn recht eigentlich Claude Debussy entdeckt, dem während eines Aufenthaltes im Hause der Tschaikowsky-Freundin Natascha von Meck die Boris-Partitur in die Hand kam. Er legte sie so bald nicht wieder weg, und seine erste und einzige Oper „Pelleas et Melisande“ bezeugt es Erst nach 1900 begann „Boris“ auch auf westeuropäischen Bühnen Fuß zu fassen, und man erkannte: „An Mussorgsky ist alles Natur. Rußland hat keinen stärkeren und reintönigeren Musiker hervorgebracht. Er hatte die weite, offene Seele und die große naive Unbefangenheit eines Menschen, der sich gegen nichts zu verschließen braucht, weil er nie befürchten muß, abhängig und unfrei zu werden!“ (Alexander Berrsche, 193 8). Neben der Universalität seiner kühnen Tonsprache bewundern wir vor allem die Genauigkeit, womit Landschaft und Seele des russischen Volkes erfaßt und dargestellt werden. Er hat das „naiv Kindliche“ ebenso wie die Einsicht in die dunklen und dämonischen Geheimnisse des menschlichen Herzens

Die Bühnengeschichte des „Boris“ ist eine Leidensgeschichte, deren einzelne Phasen sich in den fünf uns bekannten Fassungen spiegeln. Die ersten drei stammen von Mussorgsky. Fassung A (1868 bis 1869) bestand aus sieben Szenen, die der Direktion des Kaiserlichen Theaters von Petersburg eingereicht, aber von dieser abgelehnt wurden. Fassung B (1871 bis 1872) ist gegenüber A stark verändert, teils gekürzt, teils erweitert (so um den dritten, den sogenannten „Polenakt“). Sie bestand aus neun Szenen, denen bei der Wiener konzertanten Aufführung die eliminierte Szene vor der Basiliuskathedrale aus der A-Fassung eingefügt wurde. Die B-Fassung wurde 1874 in Petersburg gespielt. C ist gegenüber B nur leicht verändert und wurde in den Jahren 1877 bis 1879 sowie nach Mussorgskys Tod mehrmals aufgeführt. — Die Fassungen D und E stammen von Rimsky-Korssa- k o w, der Mussorgskys Partitur technisch glättete und dem vermeintlichen musikalischen Geschmack des zeitgenössischen Opernpublikums anpaßte. Rimsky, der für den von ihm verehrten Mussorgsky nichts anderes tat, als seinerzeit Ferdinand Löwe für Bruckner, ist wegen seiner Eingriffe in die Instrumentation und Harmonisierung der Boris-Partitur scharf getadelt worden, und auch die Wiener Musikkritik hat ihm nach der Aufführung des Original-Boris arg am Zeug geflickt. Ob die Eingriffe aber so gewalttätig, die Änderungen Rimskys i m Effekt so groß sind, könnte man nur entscheiden, wenn man Original und Bearbeitung unmittelbar hintereinander hört. Immerhin aber kann gesagt werden, daß auch Rimskys Bearbeitung vom ursprünglichen Charakter der Mussorgsky-Musik das Wesentliche bewahrt. Natürlich soll man Mussorgskys Oper inr der Originalgestalt spielen, und die Veröffentlichungen der Partitur durch Breitkopf & Härtelf 1924, sowie die Neuauflage von 1954 ebffefi hierzu den Weg. Die konzertante Aufführung im

Großen Wiener Konzerthaussaal wurde von Lovro von Matacic geleitet. Der Chot der Sloweni schen Philharmonie, Laibach und die Wiener Symphoniker waren die Ausführenden. In der Titelrolle: George London, der unvergessene Boris vom Theater an der Wien, faszinierend wie eh und je, neben ihm Evelyn Lear als Marina, ferner Dimiter Usunow,

Eduard Haken, Kurt Equiluz, Ludwig Weiter, Kunikazu Ohasu, Ivo Zidek, Margarete Sjöstedt, Georgine von Milinko- witsch und Edith Bergen-Vonkirch. Ein festlicher Opernabend mit vielen „Vorhängen“.

Im großen Saal des Wiener Konzerthauses spielte an drei Abenden das London Symphony Orchestra unter den Dirigenten Leopold Stokowski, Georg Solti und Pierre Monteux. Die Fülle musikalischer Veranstaltungen während der Wiener Festwochen gestattet uns nur den knappen Hinweis auf eines dieser Konzerte. — Stokowski gilt als effektvoller Schaudirigent typisch amerikanischer Prägung. Dieses allgemeine Urteil bestätigte höchstens die Programmwahl: die recht bombastische und lautstarke II. Symphonie des Engländers William W a 11 o n, „Tod und Verklärung“ von Richard S t r a u s s und Schostako- w i t s c h s wiederholt in diesem Saal aufgeführte V. Symphonie. Im Detail erwies sich Stokowski als feiner und sensibler Musiker, der auf dem gefügigen und virtuosen Instrument des englischen Meisterorchesters wie auf einer Riesenorgel zu spielen versteht. Er verschmäht dabei den Zauberstab und bedient sich lieber seiner zehn Finger. Auf dem Podium verwandelt sich der gebeugte, weißhaarige Mann, der sich auf einen Stock stützen muß, in den alten Zauberer, der den etwas kühlen, aber stets noblen Glanz der Londoner Streicher ebenso zu beschwören versteht wie die zarte Kantilene der Holzbläser und die schmetternde Wucht des Blechs und des Schlagwerkapparats, welcher von fünf Mann bedient wurde. — Sehr diskutabel ist die Stokowskische Orchesteraufstellung: links vom Dirigenten alle Streicher, rechts der gesamte Bläserchor und im Vordergrund die Pauken, Tromeln, Xylophone usw. Aber das entspricht wohl der idealen Klangvorstellung, die Stokowski vom Orchester hat, nämlich der von einer Riesenorgel mit möglichst gegensätzlichen Registern . . .

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