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Bruckner in Umbrien

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Tritt man aus der Apsis der B a s i 1 i c a d i S. P i e t r o von Perugia durch eine in das prächtige Chorgestühl eingelassene Tür ins Freie, auf einen Altan hinaus, so breitet sich vor dem überraschten Auge eine Landschaft, von der man glaubte, daß sie nur in der Phantasie und auf den Bildern der großen umbrischen Maler existiert. Lieber den silbriggrauen Hügeln und den mattgrünen Tälern liegt ein bläulicher Dunst. Von Osten grüßen die hellen Mauern und Zinnen des vor dem Monte Subavio terrassenmäßig aufsteigenden Assisi herüber. Das Anmutig-Liebliche und das Erhabene sind in dieser Landschaft in einzigartiger Weise verbunden. Dort drüben stand die Klause des heiligen Franz inmitten schon seit Jahrhunderten “gerodeter Wälder. Hier, gegenüber, in der Sankt-Peters-Kirche von Perugia, finden zum zehnten Male die a u s-schließlich religiöser Musik gewidmeten Festspiele statt. Sie sind die einzigen dieser Art in Europa, wurden 1937 von Perugianer Musikfreunden zum ersten Male veranstaltet, konnten damals nicht fortgesetzt werden und wurden 1947 durch Francesco Siciliani (ihren heutigen künstlerischen Leiter) neu begründet. Sie dauern jeweils acht bis zehn Tage und wurden während der ersten beiden Jahre mit italienischen, während der letzten vornehmlich mit Wiener Ensembles und Solisten bestritten.. Die hier aufgeführte Musik von „religiöser Inspiration“, wie es in einer programmatischen Erklärung heißt, reicht von Pale-strina und Monteverdi, Bach und Händel über Berlioz und Liszt bis zu den Zeitgenossen. Eine Reihe wichtiger Ur- und Erstaufführungen fand in Perugia statt: Malipieros Mysterium „San Francesco d'Assisi“, Milhauds choreographisches Oratorium „La Sagesse“ nach Claudel, Pizzettis „Sacra rappresentazione di Abramo e Isaaco“, Liviabellas dramatische Kantate „Caterina da Siena“. Honeggers „Totentanz“,'Chorwerke von Hindemith, Poulenc. Williams, Britten und vielen anderen. Von besonderem Interesse aber ist, daß die Hauptstadt Umbriens während der letzten Jahre das Zentrum der italienischen Bruckner-Pflege wurde. Gekrönt wurden diese Bestrebungen mit einer repräsentativen Aufführung der Großen Messe in f-moll durch die Singakademie, den Kammerchor und die Wiener Symphoniker unter der Leitung von Sergiu Celibidache. Ein geradezu ideales Solistenensemble (Lawrence Dutoit, reizvoll kontrastierend mit dem dunklen Timbre Christa Ludwigs; Waldemar Knientt, mit fast italienischem Glanz, und Frederick Guthrie) trug wesentlich zum Erfolg dieser Aufführung vor einem fast ausschließlich italienischen Publikum bei, das — ebenso wie die italienischen Musikkritiker — sichtlich beeindruckt war. Der Meister von St. Florian hätte an der Darbietung in diesem Rahmen, in der prachtvollen, auch akustisch günstigen Basilica di S. Pietro, seine helle Freude gehabt ...

Der f-moll-Messe war ein Konzert des Wiener Kammerchors in der Salla dei Notari unter Hans Gillesberger vorausgegangen. Nach der ,-,M issa pro defunetis“ von Lodovica d a V i 11 o r i a erklangen auch hier sechs Bruckner-Chöre, vom volkstümlichen Ave Maria von 1861 bis zu dem strengeren Christus factus est von 1884 in liturgischem Stil. Begreiflich, daß diese kürzeren Stücke das Publikum unmittelbarer ansprachen als das Monumentalwerk der Großen Messe. — Das erste von den Wiener Ensembles aufgeführte Chorwerk war Händeis „S a u 1“ unter der Leitung von William Steinberg mit den Solisten Hans Braun, Waldemar Kmentt, Hilde Zadek, Christa Ludwig, Murray Dickie und Frederick Guthrie, ebenfalls — wie die Bruckner-Messe — als italienische Erstaufführung. Die schlimmsten Befürchtungen in stilistischer Hinsicht übertraf Franz Liszts Christusoratorium, dem Wagner seinerzeit das zweifelhafte Kompliment machte: er habe nicht geglaubt, daß der Katholizismus jener Zeit fähig sei, ein so lebendiges und überwältigendes Werk zu schaffen Unter dem sich jugendlich für dieses opernhafte Opus begeisternden Dirigenten Lorin Maazel sangen und spielten: der Chor der Singakademie und die Solisten Elsa Matheis, Christa Ludwig, Waldemar Kmentt, Hans Braun und Frederick Guthrie, begleitet vom Orchester des Maggio Musicale Fiorentino. — Nach diesem weder religiösen noch interessanten Werk wußte man die nicht gerade repräsentativen Zeitgenossen G h e d i n i und C a s e 11 a zu schätzen. Des ersteren „L i t a n i e g a u d i o s e“ sind so volkstümlichanspruchslos wie die Texte. Casellas kurz vor seinem Tod (1947) geschriebene „M issa pro p a c e“ ist ein mehr weltlich-gefälliges, virtuos instrumentiertes Werk mit einem eindrucksvollen „Gloria“ und rhythmisch originellem „Agnus“. Susan Danco und Hans Braun waren die Solisten in dem Wiener Ensemble, das es unter dem jungen italienischen Dirigenten Bruno Bartoletti nicht immer ganz leicht hatte. — Ueberhaupt wurde dem Orchester der Symphoniker und den beiden Chören in diesen Tagen (mit vier Aufführungen und bis zu drei Proben täglich) viel zugemutet. Daß am Schluß doch alles gut klappte, ist der Singbegeisterung und Leistungsfähigkeit der einzelnen Chormitglieder, vor allem aber der umsichtigen und fachkundigen Vor-studierung des gesamten Repertoires durch Dr. Hans Gillesberger zu danken, dessen künstlerische und pädagogische Leistung höchste Anerkennung verdient. Eine Stütze des Ensembles war auch Doktor Josef Nebois an der Orgel, der mit Geschick und Vorsicht die wenigen brauchbaren Register der Orgel von S. Pietro einsetzte.

Als einzige Oper wurde im Rahmen des Sagra musicale umbra im Teatro Morlacchi Alexander

Dargomiskys ..II convitato di pietra“ (Der steinerne Gast) nach dem Drama Puschkins gegeben. Da dieses unvollendet zurückgelassene, von Cesar Cui ergänzte und von Rimsky-Korssakow instrumentierte Werk bisher nur in einer Studioauf-führung in Florenz gegeben wurde, handelt es sich bei der Aufführung in Perugia um eine europäische Premiere. Puschkin griff den alten Stoff des Tirso di Molina auf, und Dargomisky (der 1813, wie Verdi und Wagner, geboren ist und 1869 starb) vertonte das ganze Stück unter dem suggestiven Einfluß Mussorgskys. Es gibt in dem ganzen Werk nur ganz wenige geschlossene Nummern, Arien und En-sembles — ä la Verdi, und auch keine Leitmotive — ä la Wagner. Die rezitativisch-deklamatorischen Gesangspartien werden von einem recht farbigen und „charakterisierenden“ Orchester, das die Meisterhand Korssakows verrät, begleitet. Besonders die beiden letzten von den vier Bildern haben echtes dramatisches Leben, und man kann diesem dramma per musica — wenn man es nicht gerade mit Mozarts „Don Giovanni“ vergleicht — seine Anerkennung nitht versagen. Ein hauptsächlich aus italienischen Sängern bestehendes Ensemble und ein Florentiner Orchester spielte unter der Leitung von Emidio Tieri. Die originellen und eindrucksvollen Bühnenbilder schuf Orlando di Collalto; Tatjana Parlova führte Regie.

Was im Programm des heurigen „Sagra musicale umbra“ fehlte, war ein repräsentatives zeitgenössisches Werk. Für das nächste Jahr sind deren zwei vorgesehen: Schönbergs „Moses und Aaron“ und die „Apokalypse“ von Jean Franxais, die wahrscheinlich ebenfalls von Wiener Ensembles und Solisten aufgeführt werden.

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