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„Das Werk des XX. Jahrhunderts“

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Unter der Leitung Nicolas Nabokovs veranstaltete der Kongreß für kulturelle Freiheit ein Festival moderner Kunst, da6 während eines ganzen Monats in Paris stattfand. Die Organisatoren hatten sich das Ziel gesetzt, mit einer Reihe von Veranstaltungen die ungebrochene Kraft im künstlerischen Schaffen des letzten halben Jahrhunderts zu beweisen, wobei der Schwerpunkt auf der Musik und auf dem musikalischen Theater lag.

Wer den Reichtum, die qualitative und stilistische Uneinheitlichkeit der Musik der letzten 50 Jahre einigermaßen überblickt, weiß um die Unmöglichkeit der beabsichtigten objektiven und allen Parteien gleich gerechten „Ausstellung“ der wichtigsten Meisterwerke im Nacheinander musikalischer Ereignisse — ein Problem, das für die bildende Kunst im Nebeneinander der groß- ärtigen, aus vielen Sammlungen des Westens zusammengetragenen Schau von Bildern und Plastiken im Museum der modernen Kunst durchaus gelöst wurde. Wenn daher auch so mancher wichtige Zug der Musik der Gegenwart zugunsten von Unwesentlichem vernachlässigt wurde (was vor allem in den Kammerkonzerten der Fall war, auch fehlten zum Beispiel Orff und Egk vollständig), so war doch unter den rund 100 aufgeführten Werken von rund 60 Komponisten immerhin so viel Guted, daß der Reichtum an Ideen und großen Komponisten unserer Zeit eindrucksvoll demonstriert wurde.

Wir müssen uns daher mit der Hervorhebung der wichtigsten Ereignisse begnügen. Gleich zu Beginn brachte die Wiener Staatsoper den „Wozzeck“, der unter Karl Böhms Leitung zu einem der größten Erfolge des Festivals wurde. Bruno Walter dirigierte Debussy, Strauß und Mahler. Das unvergleichliche Bostoner Orchester spielte unter Munch und besonders in einem denkwürdigen Konzert mit Strawinskys „Sacre du printemps“ unter Monteux, an dem das begeisterte Publikum den Fehler seiner Vorgänger vor bald 40 Jahren wieder gut machte, als das Werk im gleichen Saal des Theatre des Champs- Elysees unter dem gleichen Dirigenten einen in der Musikgeschichte einzigartigen Skandal hervorrief. — Die Konzerte des „Orchestre de la Suis6e romande“ unter Ansermet brachten Honneggers 5. Symphonie, das neue Violinkonzert von Frank Martin, Werke von Roussel, Hindemith, Martinu und unübertrefflich gespielte Impressionisten! da6 Rias- Orchester, Berlin, unter Fric6ay spielte Bartök und zeitgenössische Russen (besonders interessant die Suite aus der verdammten“ Oper Lady Macbeth aus Msensk“ von Schostako- witsch); der Chor und das Orchester der Accademia di Santa Cecilia“ unter Markewitsch setzte sich für Milhaud, Dallapiccola und andere ein; die Covent Garden Opera brachte Brittens „Billy Budd“, und ein amerikanisches Ensemble die Oper „Four 6aints in three acts“ von Vergil Thompson.

Eine Reihe erlesener Ballettabende, ein Urauf ührungsabend der Ballettgruppe des Marquis de Cuevas mit etwas konventionellen Novitäten von Sauget und Auric, besonders aber des hervorragenden New-York- City-Balletts, dessen Repertoire mit den wichtigsten modernen Werken von Hindemith, Ravel, Strawinsky, Prokofieff, Copland und ändere einzigartig ist. Hier war der Höhepunkt erreicht, als Strawinsky selbst seinen „Orpheus“ dirigierte; wie denn überhaupt eine Übersicht der musikalischen Landschaft des letzten demi-siėcle aus der Vogelschau, wie wir sie in einem Monat in Paris gewonnen haben, diesen Komponisten als höchsten Gipfel unter allen benachbarten Erhebungen hervortreten läßt. Es waren neun seiner Partituren, die er teilweise selbst interpretierte (wie „Ödipus rex“ mit Cocteau als Regisseur und Sprecher und die Symphonien von 1940 und 1945), ausgewählt worden, aus der langen Reihe von Meisterwerken zwischen „Feuervogel (1910) und „Orpheus“ (1947), die ein eindrucksvolles Beispiel von reichster Inspiration und konsequenter Entwicklung ist.

Strawinskys Triumph kam nicht überraschend, wiä Sich überhaupt kaum etwas Unvorhergesehenes ereignete. Doch war die zielbewußte Beschränkung auf die neue Musik und das Fortfallen des ständigen Verglei- chens mit den Produkten früherer Jahrhunderte ein in höchstem Maße fesselndes Experiment. Seit langem war jener in früheren Zeiten selbstverständliche Normalzustand, das Leben und Denken in den Kun6tfoimen der Gegenwart, nicht mehr so konsequent und erfolgreich durchgeführt worden wie diesmal in Paris, und die Fülle von Gei6t und Leben ließen die Tatsache gerne in Kauf nehmen, daß viele der angeführten Werke nicht in die Ewigkeit ein- gehen werden. Von hier aus ließ sich erst 60 recht die Fragwürdigkeit des „genormten“ Musiklebens erkennen, das sich historisierend auf eine Auswahl von Standardwerken früherer Jahrhunderte beschränkt und dem Geist der Stileklektik der Architekturen des vqri- gen Jahrhunderts noch durchaus verwandt ist. Der große Publikumserfolg aller wesentlichen Werke (selbst so anspruchsvoller wie der „Erwartung“ Schönbergs) war der klare Beweis dafür, daß die vielgeschmähte „Moderne“ — in ihrem eigenen, autonomen Bereich vorurteilslos aufgesucht — auch dem Verständnis breiterer Schichten durchaus zugänglich ist und daß ihre Ablehnung meist auf mangelhafte Kenntnis bedingt ist.

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