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Der Einbruch der neuen Musik

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Als Herbert von Karajan vor genau zehn Jahren Gefallen an Stockhausens musikalischer Experimentierküche fand, gab es im Mozarteum ein Kammerkonzert von Mitgliedern des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Pierre Boulez mit Werken von Karlheinz Stockhausen, Anton von Webern und Boulez. Der Maestro selbst saß neben Mitropoulos in der Mozarteumsloge und gab sich attraktiv interessiert. — Dabei blieb es denn auch. In den nachfolgenden Jahren, in denen die bislang übliche Uraufführung einer Oper ebenfalls unter die Räder der Konvention geriet, bedeuteten Orchesterwerke von Stra-winsky, Bartök, Schostakowitsch den Gipfel zeitgenössischer Erkenntnisse, schließt man eine elektronische Ballettmusik von Badings für das Amsterdamer Ensemble aus — oder Milko Kelemens „Spiegel“-Musik tür. die Agramer Tanztruppe ein.

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Als Herbert von Karajan vor genau zehn Jahren Gefallen an Stockhausens musikalischer Experimentierküche fand, gab es im Mozarteum ein Kammerkonzert von Mitgliedern des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Pierre Boulez mit Werken von Karlheinz Stockhausen, Anton von Webern und Boulez. Der Maestro selbst saß neben Mitropoulos in der Mozarteumsloge und gab sich attraktiv interessiert. — Dabei blieb es denn auch. In den nachfolgenden Jahren, in denen die bislang übliche Uraufführung einer Oper ebenfalls unter die Räder der Konvention geriet, bedeuteten Orchesterwerke von Stra-winsky, Bartök, Schostakowitsch den Gipfel zeitgenössischer Erkenntnisse, schließt man eine elektronische Ballettmusik von Badings für das Amsterdamer Ensemble aus — oder Milko Kelemens „Spiegel“-Musik tür. die Agramer Tanztruppe ein.

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1965, unter dem Zwang einer Datenwiederkehr, besann sich einer der Veranstalter des vor 20 Jahren verstorbenen Anton von Webern. Drei Gedenkkonzerte waren der Ertrag, zwei des Ensembles „die reihe“ unter der Leitung von Friedrich Cerha und eines mit dem Lasalle-Quartett. Und der wackere Zubin Mehta, in Wien unter Swarowsky auch in der Wiener Schule groß geworden, sorgte dafür, daß in seinem Orchesterkonzert die Sechs Stücke für Orchester op. 6 aufgeführt wurden — von den Wiener Philharmoniker, die an sich mehr bei Weber (Carl Maria von) als Webern zu Hause sind. Gleichviel: Indien lehrte damals Salzburg, was es großen Österreichern schuldig ist. Inzwischen kommt die Belehrung von anderer Seite. Der österreichische Rundfunk, seit Jahren materiell erstarkt und geltungsbedürftig, schickt sein zahlenmäßig aufgestocktes Symphonieorchester ins musikalische Schlachtgetümmel. All-dort wird in kleiner Besetzung um Cerha, Webern (dessen Todestag zu gedenken das Jahr wiederum einen zahlenrunden Anlaß bietet), Ligeti und Boulez gekämpft und mit riesenhafter Streitmacht, verstärkt durch ORF-Chöre aus Wien und Salzburg und die Wiener Sängerknaben, um Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion. Womit von den anregendsten Orchesterkonzerten dieser Festspiele die Rede ist. Der erste Abend, dargeboten im Kleinen Festspielhaus vor einem halben Tausend interessierter Zuhörer, wurde von Reinhard Peters geleitet, brachte von Friedrich Cer-has siebensätziger Suite „Spiegel“ die Teile I und VI, hernach eine Pieihe von zum Teil nachgelassenen Webern-Ltedern (op. 13) und dessen fünf Sätze für Streichorchester, op. 5, ferner Ligetis „Apparitions“ und „Figures-Doubles-Prismes“ von Boulez.

Die bis auf das Boulez-Oeuvre allesamt zumindest zehn Jahre alten Kompositionen hinterließen unterschiedlichen Eindruck: Den stärksten (nebst dem Ahnherrn Webern) Ligetis fließende, keine harmonischen Bindungen erkennen lassende Musik, den schwächsten Boulez' Oeuvre mit unorganisch-orgiastischen Knalleffekten. In Cerhas vielschichtig gefaßten, klaren „Spiegel“ hätte man sich gerne ausgiebiger hineingehört, ganze sieben Sätze lang. Reri Grist ■sang die Webern-Lieder mit entwaffnender Natürlichkeit und vollendeter Musikalität, Reinhard Peters wies sich in dieser musikalischen Species als Fachmann aus. Das Echo war dementsprechend.

Die Lukas-Passion wurde im X. Orchesterkonzert der Festspiele im Salzburger Dom aufgeführt. All-dort versammelten sich zu Füßen des Hochaltares Musiker und Sänger und der Sprecher Hans Christian. Milan Horvat, Chef des ORF-Orchesters, dirigierte, Stefania Woytowicz, Andrzej Hiolski und Bernhard Ladysz sangen, wie in Wien, in Polen, in Köln (beim WDR) die Soli. Das Werk, in seiner geistigen Bindung zum Passionstext (und dessen Erweiterungen durch Psalmenworte u. a. m.) hier bereits kritisch gewürdigt und auch der musikalischen Substanz nach analysiert, bedarf anläßlich seiner Salzburger Erstaufführung keiner neuerlichen Beschreibung. Die Höhepunkte von Pende-reckis Schöpfung, in manchen gewaltigen chorischen Einwürfen erschütternd präsent, in diesem oder jenem instrumentalen Nachspiel noch nachhaltiger im Gedächtnis bleibend, gewinnen ohne Zweifel durch den sakralen Rahmen. Was hingegen an Ausgeklügeltem und auf Effekt Gemünztem in solch experimentelle Arbeit hineingetragen wird, verliert bei mehrmaligem Hören an Überzeugungskraft, wird durch die verbindliche Strenge eines Gotteshauses noch unerbittlicher ins Zwielicht der Spekulation gerückt. Die Aufführung hatte Größe vor allem dank der Vollkommenheit der Leistungen der drei Solisten. Präzise Schützenhilfe leistete das auf Punkt und Komma getrimmte ORF-Symphonie-Orchester. Seine (und der Chöre) Einstudierung stellte Milan Horvat als technisch souveränem, hellwachem Dirigenten ein gutes Zeugnis aus.

Zwei Tage davor wurde im IX. Orchesterkonzert der Festspiele im Großen Haus Beethovens „Neunte“ gespielt — von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Rafael Kubelik, der dieses für Szell programmierte Konzert nicht hätte übernehmen sollen. Sein Musizieren war weich, unscharf nicht nur in der Kontur, sondern auch dem Präzisionsgrad nach — das Gelungenste des ganzen Abends somit die Maurerische Trauermusik von Mozart, zum Beginn des Konzertes gespielt in memoriam des jüngst verstorbenen George Szell. — Aus dem Solistenquartett für das Finale der „Neunten“ ragten die Sopranistin Helen Donath und der Baritonist Walter Berry heraus. Ausstehen noch drei Konzerte unter Böhm (Beethoven, Strauß), Karajan (Verdi-Requiem) und Abbado (Mozart, Bruckner). Sie sind, um dem gängigen Jargon Genüge zu tun, bis auf das Allerletzte eine „sichere Bank“. Was ein Grund dafür sein mag, daß sich — um das Bild wieder aufzulösen — die Herren Dirigenten allzu häufig und zu lange auf sie draufsetzen, aufs „Heldenleben“ wie auf die „Pastorale“.

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