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Der „Faust“ des kleinen Mannes

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Wenn wir von einem Frühwerk, der exotischen Märchenoper „Le Rossignol“ (1908 bis 1914 komponiert) und dem szenischen Oratorium „Oedipus Rex“ von 1927 absehen, so ist „The Rake's Pro-gress“ die einzige abendfüllende Oper Igor Strawinskys, des wohl größten Komponisten unserer Zeit. Die Wiener Staatsoper hat daher unbedingt richtig gehandelt, wenn sie gerade dieses Werk in ihren Spielplan aufnahm.

Wieder aufnahm ... Denn bald nach der Uraufführung im September 1951 (im Teatro La Fenice von Venedig) fand am 25. April 1952 die Wiener Premiere im Theater an der Wien statt. Mit jener denkwürdigen Aufführung unter der Leitung von Dr. Günther Rennert und Heinrich Hollreiser in den sparsamen, klassizistisch stilisierten schwarz-weißen Bühnenbildern Stephan Hlawas muß die jetzige Neuinszenierung Otto Schenks verglichen werden. Und sie hat, das darf eingangs gesagt werden, in allen Ehren bestanden. Nicht zuletzt wegen ihrer absoluten Originalität und Verschiedenheit von der Inszenierung vor dreizehn Jahren.

Rennert und Hlawa ließen sich von dem hochartistischen, ja artifiziellen Charakter und Gestus der Partitur Strawinskys inspirieren, von den verschiedenen formalen und melodischen Modellen, die von Monteverdis Vorspiel zu „Orfeo“ über Purcells „Cacilien-Ode“, Händel-Arien, Mozart (Menuett und Epilog aus „Don Giovanni“) bis Rossini und Tschaikowsky reichen. In der Musik mit ihren geschlossenen Nummern (Arien, Duetten und Ensembles), ihren Secco- und Accompagnato-Rezitativen, vor allem aber in der Vorherrschaft der Melodie, zu der die stok-kenden und pochenden Begleitrhythmen einen reizvollen Gegensatz bilden und nie nachlassende Spannung schaffen, erweist sich Strawinsky als bewußter Traditionalist. Hierzu der Komponist: Er habe sich wissentlich und freiwillig der Formen eines gewissen Akademismus bedient. — Und was die Melodie betrifft: „Ich denke allmählich wie das große Publikum: Daß nämlich die Melodie den obersten Platz In der Hierarchie der Elemente behalten muß, aus denen sich die Musik zusammensetzt.“

Otto Schenk, sein Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen und die Kostüm-zeichnerin Hill Reihs-Gromes hielten sich vor allem an die 1734 entstandenen Kupferstiche und Gemälde William Hogarths, die Szenen aus dem Leben eines Wüstlings darstellen. Dieser „Wüstling“, dessen Lebensweg in der Art einer ntittaialtflislichen „Modalität''. ivom„Land-, über*das Freuden- ins; Irrenhau geschil-. dert wird, ist eigentlich ein passiver Held, ein wegen seiner Charakterschwäche leicht zu verführender junger Mann, seinem Wesen nach mehr Peer Gynt als Faust oder Don Juan. Und im Verführer, in der Oper Strawinskys Nick Shadow genannt, kreuzen sich Züge Mephistos mit solchen Leporellos. Das von W. H. Auden und ehester Kallman für Strawinsky geschriebene Stück mag man also gern als „den Faust des kleinen Mannes“ bezeichnen. Nicht zuletzt auch wegen der gewissermaßen kammerbühnenmäßigen Anlage des Ganzen. Himmel und Hölle bleiben unbeschworen. Die zielstrebige, in neun Szenen gegliederte Handlung mündet in einen heiteren Epilog: „Wo Faule sind auf dieser Welt, der Teufel find't sein Feld bestellt; die Früchte, gute Leute hier, seid Ihr — und Ihr!“

Trotz der vielerlei Anklänge hat die Musik Strawinskys ihren unverwechselbaren Eigenton und entbehrt auch der lyrischen, unmittelbar ergreifenden Schönheiten nicht. Daran vor allem — und an die realistischen Bilder Hogarths — hielten sich der Regisseur und der Bühnenbildner. Die klassische Schönheit und Feinheit der kostbaren Partitur, an der Strawinsky drei Jahre gearbeitet hat, betreute aufmerksam Oscar Danon, der Belgrader Opernchef, mit dem Orchester der Wiener Philharmoniker. — Mit schöner Stimme und überraschend beweglichem Spiel haben Waldemar Kmentt (Tom Rakewell) und Eberhard Wächter (Nick Shadow) die beiden männlichen Hauptpartien gesungen und agiert. Eine ideale Ann, in Wesen und Gestalt wie aus einer deutschen romantischen Oper, ein Gret-chen, das seinen ungetreuen Tom bis in die Irrenanstalt folgt, ist Anneliese Rothenberger, die ihre überaus schwierigen Soprankoloraturen glänzend beherrschte. Eine originelle Charakterrolle hatte Vera Little als bärtige, buntaufgeputzte Türkenbab — eine schwarze Venus aus einer Jahrmarkt-Schaubude. In

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Im ganzen: eine mit aller erforderlichen Akribie vorbereitete Aufführung (Chöre: Dr. Harald Goertz), die bei der Premiere mindestens ein Dutzend Vorhänge verzeichnen konnte und gute zehn Minuten Applaus erhielt. Sie kann als Exempel einer immer noch möglichen Ensembleleistung angesehen werden und wird bald, in teilweiser Neubesetzung, wiedergespielt werden.

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