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DER MUT ZUM UNGEHEUREN
Bei diesem genialen Musiker ist alles, was die karge Natur sonst unter mehrere und viele verteilt, auf ein-|oal und in aller Fülle da, ohne sich gegenseitig zu stören: natürliches Musizieren aus dem Organismus des Melos und us der Architektur der Form, überschwengliches Temperament, höchste rhythmische Präzision und höchste agogische Freiheit, glühende Innerlichkeit des Ausdrucks und Ablehnung alles Übertriebenen, schlichte große Art der Dynamik und Fähigkeit zu den raffiniertesten Abtönungen und Unterteilungen.“
Diese Worte schrieb vor genau 30 Jahren der Münchener Max-Reger-Schüler und ausgezeichnete Kritiker Alexander Berrsche, der zu den größten Bewunderern De Sabatas im deutschen Musikraum gehörte. Das Urteil ist um so gewichtiger, als Berrsche ganz im Geist deutscher Musik ausgebildet war und fast ausschließlich in ihr lebte. Doch vor dieser Ausprägung edelster Italianitä senkte der Bewunderer Pfltz-ners und Regers nicht nur den Degen, sondern hat ihr wiederholt in Superlativen und mit oft hymnischen Worten gehuldigt.
Und in der Tat gehört De Sabata zu den ausgeprägtesten und distinguiertesten italienischen Musikern, zu jener zweiten Generation nach Toscanini, die wir heute ebenfalls schon als „die ältere“ bezeichnen müssen, welche wir aber, da wir sie noch am Pult erlebt haben, immer noch als diejüngere zu sehen versucht sind.
Vittorlo De Sabata wurde am 10. April 1892 in Triest geboren. Dem Umstand, daß sein Vater als Chormeister an die Scala kam, verdankt er es wohl, daß er schon mit zehn Jahren in das Mailänder Konservatorium eintrat, dessen Diplom für Komposition er als Achtzehnjähriger erhielt. Sein erster Lehrer war Michele Saladino, der Kontrapunkt und Komposition lehrte und in Italien als Komponist von Kirchen-, Chor- und Kammermusik einen Namen hatte und dessen „Piccolo trattato teorico — pratico d'armonia“ auch heute noch geschätzt wird. Sein zweiter Lehrer wurde Giacomo Ore-flce, der bis zu seinem Tod im Jahre 1922 den Lehrstuhl für Komposition innehatte, als Pianist und Interpret seiner eigenen Werke gerne hervortrat und sich durch die Neuausgabe und Instrumentation von Monteverdis „Orfeo“ einen Namen gemacht hat.
Mit zwölf Jahren dirigierte De Sabata zum erstenmal; bald darauf leitete er ein Schülerkonzert, in dem Enrico Mainardi als Solocellist debütierte. — Die Weichen schienen gestellt, doch De Sabata wollte Komponist werden. Die Orchestersuite, mit der er 1910 das Diplom machte, berechtigte zu den schönsten Hoffnungen: sie wurde nicht nur im Augusteo aufgeführt, sondern De Sabata konnte mit ihr durch halb Europa reisen und hatte überall Erfolg. Auch in späteren Jahren hat De Sabata komponiert und wurde aufgeführt: 1917 entstand die Oper „II Maöiigno“, die in Mailand Premiere hatte; 1918 bis 1919 schuf er die symphonische Dichtung „Juventus“, in den Jahren darnach „La notte di Piaton“ und „Gethsemani“; 1931 wurde das Ballett „Mille e una notte“ in Mailand aufgeführt, 1935 die Oper „La Driada“. Vorher waren noch die Bühnenmusik zu Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ sowie mehrere Kammermusikwerke und Lieder entstanden — ein beachtliches kompositorisches Werk, nicht nur dem Umfang nach. Aber in der Musikwe'lt wurde er. vor allem als Dirigent bekannt — und das war er mit vollem Einsatz seiner großen Begabung.
Sein erstes Engagement trat De Sabata im Jahre 1918 am Theater von Monte Carlo an, wo er bis 1926 blieb. Hier dirigierte er am 21. März 1925 die Uraufführung von Ravels „L'enfant et les sortileges“; ein Jahr später fand im selben Haus unter seiner Leitung die Premiere von Puc-cdnis „La Rondine“ statt. 1927 wurde De Sabata als Chefdirigent an die Scala berufen, und ein Jugendtraum mag sich ihm damit erfüllt haben. Vorher hatte er einige Monate als Dirigent des Cincinnaty Sympiiony Orchestra in den USA verbracht. An der Scala debütierte er mit Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen''' und mit „Fausts Verdammung“ von Berlioz. Ein Jahr später führte er in der römischen Oper den „Tristan“ auf, und 1939 folgte, ebenfalls in Rom, eine Aufführung derselben Oper mit einem deutschen Ensemble und in deutscher Sprache. — Im übrigen waren Toscanini und De Sabata die einzigen italienischen Dirigenten, denen man Bayreuther Aufführungen anvertraute.
De Sabatas Gastspiele in der Oper von Rom fanden in den Jahren 1939 und 1946 statt. Seine Mitwirkung am Maggio Musicale Fiorentino erstreckte sich auf den Zeitraum von 1933 bis 1942. Von 1953 bis 1957 war De Sabata „sovrinten- . dente artistico“ der Scala und zuletzt „alto consulente artistico“. In allen diesen Jahren führte ihn sein Weg als Gastdirigent nach London und Edinburgh, zu den Festspielen von Luzern und Salzburg, an die Accademia di Santa Oecilia nach Rom und ans Concertgebouw in Amsterdam, nach Chikago, New York, Philadelphia und Boston.
Aus der großen Anzahl der von ihm immer wieder dirigierten und besonders bevorzugten Werke seien die folgenden genannt: „Iphigenie in Tauris“ von Gluck, „Samson und Dalila“ won Saint Saens, „Pelleas et Melisande“ und „Le Martyre de Saint Sebastien“ von Debussy sowie anderes damals Zeitgenössisches, wie zum Beispiel „L'Amore dei tre re“ von Montemezzi. Sein „Repertoire Verdiano“ ist fast vollständig und umfaßt acht Meisteropern seines großen Landsmannes. (Von Wagner bevorzugte er „Die Walküre“ und „Tristan“.)
Doch trat De Sabata auch häufig als Konzertddrigent hervor. Besonders fühlte er sich dem „Requiem“ von Verdi verbunden, bei dessen Uraufführung im Jahre 1874 bereits Solisten der Scala mitgewirkt hatten, die bald darauf in drei Aufführungen en suite sangen — was damals, bei einem Konzertwerk, etwas durchaus Ungewöhnliches war. Wie sein großer Landsmann Toscanini dirigierte De Sabata immer wieder auch die Symphonien von Beethoven und Brahms, und eine zyklische Aufführung aller Beethoven-Symphonien, die De Sabata 1947 in England veranstaltete, blieb allen, die sie im Konzertsaal oder am Rundfunk miterlebten, noch lange und eindringlich im Gedächtnis. In Wien erinnert man sich noch seiner „Aida“- und „Othello“-Aufführungen, und einer, der dabei war, meinte: Nun wisse man endlich, warum Verdi gelegentlich mit vier p oder vier f schrieb: „Bei uns wagt kaum jemand, das Blech im Fortissimo sich so ausrasen zu lassen, wie wir es bei De Sabata erlebten.'“ In seinem Musizieren vereinigten sich Robustheit und Sensibilität, Naturalismus und Formstrenge, Theaterinstinkt und Noblesse, Filigranarbeit in Dynamik und Deklamation mit heftigem, impulsivem Ausdruck. Berühmt sind De Sabatas auf weite Sicht angelegte Steigerungen, das stürmische Anziehen des Tempos — wofür seine Interpretation des Ravelschen „Bolero“ für alle, die sie erlebt haben, ein unvergeßliches Beispiel ist. (Uber diesen Punkt gab es einmal einen heftigen Streit zwischen dem Komponisten und dem großen Toscanini, obwohl dieser nachweisen konnte, daß die inkriminierte Beschleunigung nicht stattgefunden hatte, sondern durch Intensivierung des Vortrags vorgetäuscht war...)
An den Höhepunkten eines Werkes hat De Sabata „den Mut zum Ungeheuren“, aber seine klangliche Kultur bewahrt ihn vor Brutalität. Es gibt aus der Feder des eingangs zitierten Kritikers Berrsche Analysen von Interpretationen De Sabatas, zum Beispiel des Vorspiels zu „Aida“, wo die hohe Musikalität, die nachschaffende Genialität des Dirigenten bis in die einzelne Note, den stärker oder schwächer gesetzten Akzent, die unscheinbarste Phrasierung nachgewiesen wird. Doch ist, nach einem Wort von Brahms, beschriebene Musik wie ein erzähltes Mittagessen. Aber da schon der Name Brahms gefallen ist, mögen noch einige Sätze folgen, die der Berliner Musikologe Friedrich Herzfeld nach einer Begegnung mit De Sabata aufgeschrieben hat:
„Mit den Berliner Philharmonikern probierte er die IV. Symphonie von Brahms. Es kann kein ernsteres Ringen geben. Zu den ersten Takten mit der elegischen E-Moll-Melodie wird gewiß fünfzigmal angesetzt. Sabata verlangt einen eigenen melodischen Fluß, der erst überzeugt, wenn er in seinem Sinn gelingt. Es gibt keine Aufregung, wenn das Richtige noch nicht getroffen wird. Aber Sabata bleibt beharrlich und unbeirrbar in der Verfolgung seines Zieles. Dieses Ringen um das Ideal ist so fesselnd, daß es auch die anspruchsvollen Philharmoniker begeistert. Es geht bei Sabata um eine Durchsichtigkeit von besonderer, nämlich italieni-scher Art... Sabata sucht einen viel helleren, lichteren Orchesterklang, als wir es gewöhnt sind... Man könnte sagen, daß Sabata nicht in öl, sondern in Wasserfarben zu malen wünscht. Es ist die. lateinisch-romanische Klarheit, die hier dem deutschen Werk ein eigenes Gesicht gibt.“
Während der letzten Jahre ist es still geworden um den gefeierten Dirigenten. Er hat sich nach Santa Margherita an der ligurischen Küste zurückgezogen, wo er — in mönchischer Abgeschiedenheit lebend — kaum noch jemanden empfängt und von wo er sich nur selten entfernt. Ob dies das Ende einer glänzenden Laufbahn ist oder nur eine Ruhepause — wir wissen es nicht zu sagen..
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