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Die ungeliebte siebente Muse

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„Die Szenerie der Ballettlandschaft erscheint immer wieder in neuer Beleuchtung: im morgendlichen Licht der Renaissance; im stolzen Mittag des Barock; als zärtlicher Schimmer des sinkenden Tages im Rokoko; eingehüllt ins blaue Mondlicht der Romantik. Ein langer grauer Nebeltag war fürs Ballett die Zeit des Naturalismus, aber ein kräftiger Sonnenstrahl durchdrang von Osten her das Gewölk: das Russische Ballett“ (O. F. Regner, der vor kurzem verstorbene führende deutsche Ballettkritiker). Aber das Russische Ballett strahlte nicht direkt von Osten her auf die westeuropäischen Tanzbühnen, sondern wirkte auf dem Umweg über Paris. Hierher hatte Sergius de Diaghilew im Jahr 1908 das Kaiserlich Petersburger Opem-ensemble gebracht, und im Jahr darauf sah Paris die erste Aufführung der „Ballets Russes“, dank der Unterstützung russischer Mäzene, wie des Großfürsten Wladimir und des Generals Besobrasow, die Diaghilew für diese Tournee des Marijinsky-Theaters eine runde Million Rubel zur Verfügung gestellt hatten. Bis zu seinem Tod in Venedig im Jahr 1929, also im Lauf von zwanzig Jahren, hat Diaghilew 35 Ballette herausgebracht: als Initiator und Manager, der es verstand, die besten und originellsten Künstler seiner Zeit für seine sensationellen Aufführungen zu engagieren.

Der Hauschoreograph jener ersten Jahre war Fokin. Das erste Ballett hieß „Le Pavillon d'Armide“, die Musik hatte Prokofieff geschrieben, die Bühnenbilder und Kostüme stammten von Alexandre Benois. Am gleichen Abend, dem 19. Mai 1909, wurden im Theätre du Chatelet auch Borodins „Polowetzer Tänze“ aufgeführt. Es folgten Ballette nach Musik von Arensky und Rimsky-Korssakow, Respighi und de Falla. Leon Bakst wurde immer häufiger als Bühnenbildner beschäftigt, die Karsawina, Waslaw und Bronislawa Nijinski tanzten, man reiste nach Berlin und Monte Carlo, später auch nach London und Washington. — Bereits 1910 brachte Diaghilew das erste Ballett von Strawinsky heraus, den „Feuervogel“, dem 1911 „Pe-truschka“ und 1913 „Le Sacre du Printemps“ folgten. Ravel, Debussy und Richard Strauss schrieben für Diaghilews berühmte und skandalumwitterte Truppe. Doch der erste Weltkrieg unterbrach die Arbeit. Bereits 1917 hatte der Unermüdliche neue Künstler einer neuen Richtung um sich versammelt: das Libretto zu „Parade“ schrieb Cocteau, die Musik Erik Satie, Bühnenbilder und Kostüme schuf Picasso. In den folgenden Jahren arbeiteten die Komponisten Milhaud, Auric und Poulenc von der Gruppe der „Six“ — und immer wieder Strawinsky — für die „Ballets Russes“, die Maler Deradn, Juan Gris und Marie Laurencin schufen die Ausstattungen, und als Choreograph taucht immer häufiger Balanchine auf. Für sein letztes Ballett „Le Als pro-digue“ von Prokofieff gewann Diaghilew den großen Georges Rouault als Bühnenbildner...

Wir haben absichtlich so viele Namen genannt, um aufzuzeigen, daß das Ballett keine isolierte Kunstform ist, sondern geradezu zu einem Sammelplatz der besten und originellsten Künstler werden kann. — An dieser glanzvollen Entwicklung hatte das Wiener Opernballett kaum Anteil, obwohl seine Wiege bereits am Hof Leopolds I. gestanden war und zur Zeit Maria Theresias der Spielplan der beiden unter einer gemeinsamen Leitung befindlichen Hoftheater größtenteils vom Ballett beherrscht wurde. — In jener Zeit, Mitte der zwanziger Jahre, wirkte in Wien der Berliner Heinrich Kröller, vorübergehend leitete die Frau des Tänzers Waslaw Nijinski das Opernballett, Toni Birkmeyer, Valeria Kratina, Margarete Wallmann, Willy Franzi und Helge Swedlund folgten, bis 1941 Erika Hanka die Leitung des Staatsopernballetts übernahm und eine ganze Reihe auch zeitgenössischer Ballette choreographierte, unter anderen „Nobilissima Visione“ von Hindemith, „Abraxas“ von Werner Egk, Einems „Rondo vom goldenen Kalb“, Bergers „Homerische Symphonie“ usw. Nach Erika Han-kas Tod vor sieben Jahren entstand ein gefährliches Vakuum, das durch Dimitrie Partie nur zum Teil ausgefüllt werden konnte. Dann kam, im Herbst 1962, zunächst als Gastchoreograph, Aurel von Milloss nach Wien, dem der ehemalige Stuttgarter Intendant Professor Schäfer, damals auf ein „Probejahr“ Direktor der Wiener Staatsoper, einen Dreijahresvertrag als Ballettdirektor und Ohefchoreograph anbot.

Alle, die am Schicksal des Wiener Staatsopernballetts interessiert waren und die in dem „Mauerblümchen“ (wie es an dieser Stelle wiederholt bezeichnet wurde) mehr sahen, als nur ein Instrument für Operneinlagen und Divertissements, haben die Berufung Aurel von Milloss' lebhaft begrüßt und alle Hoffnungen auf ihn gesetzt. Denn er brachte alle Voraussetzungen mit, das Wiener Opernballett zu reaktivieren, ihm internationales Ansehen zu verschaffen und überdies mit seinen eigenen Tanzschöpfungen einen Beitrag zum zeitgenössischen Musiktheater zu leisten, dessen der Opernspielplan dringend bedarf. Die ersten beiden Jahre seines Wirkens haben bewiesen, daß Aurel von Milloss „der Richtige“ war.

1905 in Ungarn geboren (seit 1960 italienischer Staatsbürger), betrieb Aurel Milloss von Miholy neben seiner Ausbildung im künstlerischen Tanz ausgedehnte klassische und philosophische Studien, beschäftigte sich mit Musik- und Theatergeschichte und erhielt, nach einem

Debüt als Choreograph eines Kon-zert-Tanzprogrammes in Herwarth Waldens Kunstgesellschaft „Der Sturm“, sein erstes Engagement an die Berliner Staatsoper. Was er, als Tänzer und Choreograph, bei Cecchetti in Mailand, bei Laban und Viktor Gsovsky in Berlin gelernt hatte, konnte er jetzt anwenden und in eigener schöpferischer Arbeit vertiefen. Nach selbständiger Tätigkeit als Choreograph und Ballettmeister in verschiedenen Städten Deutschlands folgten Engagements an die Oper von Budapest und das Teatro San Carlo in Neapel. Von 1938 bis 1945 war er Ballettdirektor, Chefchoreograph und Solotänzer der Römischen Oper, Gastchoreograph in Mailand und in Florenz. 1946 rief ihn Toscanini an die wiederaufgebaute „Scala“. Seither wechselten feste Engagements und Gastspiele in aller Welt zwischen Perugia („Sagra Musicale Umbra“) und Buenos Aires. Es gibt kaum eine größere Stadt, kein Ballettzentrum, wo Milloss nicht erfolgreich gewirkt hätte. Außerhalb Italiens war Paris ein Zentrum seiner Aktivität, wo er die Anerkennung und die Freundschaft führender Künstler, wie Cocteau, Mauriac und vieler anderer, erfahren hat.

In allen diesen Jahren schuf Milloss mehr als 150 Ballette (die Schilderung seiner Persönlichkeit und seines Schaffens nimmt in der „Enci-clopedia dellö Spettacolo“, einem mehrbändigen internationalen Standardwerk, sechs engbedruckte Spalten ein). Der bereits zitierte deutsche Ballettspezialist O. F. Regner pries

Milloss als einen Mann, „dessen Einsicht in die Schichtungen des geistigen Lebens ebenso umfassend ist wie seine Prägekraft selbständig, eigenwillig und stilbildend“. Dabei ist Milloss, der den Expressionismus seiner eigenen Jugendzeit in Gebilden von gewissermaßen gestählter Klassizität verarbeitet und zur Ruhe bringt, ein Mann der großen Synthese, keiner Problematik ausweichend, aber letzten Endes von positiver Einstellung; dem es immer wieder um den Menschen unserer Zeit geht, den gefährdeten, aber unbesiegten, den die Bildhauer und Maler unserer Zeit nicht mehr darzustellen vermögen. In dem runden Dutzend Ballette, die wir im Lauf dieser letzten zwei Jahre gesehen haben, hat Aurel von Milloss als Künstler und Choreograph hohe Ansprüche an das Publikum und als Ballettdirektor höchste Ansprüche an das Corps de ballet und seine Solisten gestellt (und wir meinen, daß sich nur eine künstlerische Arbeit von dieser Art wirklich lohnt). All das wurde unter zum Teil schwierigsten Umständen geleistet und fand nicht die entsprechende Anerkennung.

Sprechen wir zunächst von den „technischen Schwierigkeiten“.

Bei unseren Kulturbehörden und im Großen Haus am Ring gilt das Ballett keineswegs als eine der Oper gleichwertige Kunstgattung. Es steht im Dienst einer Muse, die ziemlich am Ende der Reihe rangiert und spielt die Rolle eines Mauerblümchens, das man vorzugsweise als Lückenbüßer im Spielplan benützt. — Das Publikum reagierte zwar auf Milloss' Ballette durchweg positiv, kam aber eigentlich gar nicht recht zum Zuge, denn etwa sein dritter, sehr bedeutender Premierenabend mit zwei Uraufführungen war am letzten Tag der Wiener Festwochen angesetzt, die Wiederholung fiel bereits in die Hundstage, und in der neuen Spielzeit steht er vorläufig nur noch einmal auf dem Programm. — Die Wiener Kunstkritik, wegen ihrer Direktheit und ihres Tones bekannt (und gefürchtet), ist auf Ballett wenig spezialisiert und mußte daher von einem Künstler vom Rang und der Erfahrung Milloss' als inkompetent empfunden werden. Wer seit 30 Jahren in der übrigen Welt allgemein anerkannt wird und in den Fachbüchern und Enzyklopädien einen festumrissenen und ehrenvollen Platz einnimmt, dem kann schwerlich zugemutet werden, daß er sich von Liebhabern und Anfängern in diesem Metier, recht jugendlichen oft noch dazu, öffentlich schulmeistern läßt. Doch — das ist ein weites Feld, das einmal eingehend betrachtet werden sollte. (Eine international bekannte Sängerin mit schöner und intakter Stimme, intelligent und sprachbegabt, also fürs Konzertpodium prädestiniert, antwortete auf die Frage, weshalb sie in Wien keinen Liederabend gebe: sie habe keine Lust, sich von der hiesigen Kritik anflegeln zu lassen; sie mache ihre Liederabende lieber in Berlin, Paris und New York.)

Diese und andere Umstände mögen zusammengewirkt haben, Herrn von Milloss seine Arbeit in Wien zu verleiden, seinen mit Ende dieser Spielzeit ablaufenden Vertrag nicht zu erneuern und eine ehrenvolle Berufung an die Römische Oper anzunehmen. Für ihn ist diese Frage also gelöst. Für uns und die Wiener Oper leider keineswegs. Denn der Nachfolger Milloss' wird, falls er Ambitionen hat, sich vor die gleichen Probleme und Schwierigkeiten gestellt sehen. Wie können sie gemeistert werden?

Vor allem ist eine Art „Charta des Balletts“ aufzustellen, die folgende Punkte enthält:

• Die siebente Muse ist kein Aschenbrödel, sondern leistet einen wichtigen und angesehenen Beitrag zum Opernrepertoire, insbesondere zum zeitgenössischen Musikitheater;

• äußeres Zeichen der Wertschätzung ist der wöchentliche „jour fix“ für das Ballett;

• 15 Probestunden und fünf Trainingsstunden pro Woche sind zu wenig; nach Regelung dieser Frage mit der zuständigen Gewerkschaft sind die Tänzer auch materiell besser zu „honorieren“;

• Premierentermine des Balletts sind mit der gleichen Sorgfalt einzuplanen wie die der Opernneuiinsze-nderungen;

• der Posten des Ballettdirektors ist dem des Operndirektors zu-, nicht untergeordnet. Nur eine Persönlichkeit von künstlerischem Rang und internationalem Ansehen kann ihn bekleiden. Daher scheiden Besetzungen etwa durch einen Solotänzer, ein Mitglied der Administration oder einen von auswärts geholten Routinier, auch wenn dieser auf erfreuliche Kassenerfolge hinweisen kann, von vornherein aus.

Mit dem traurigen Geschäft, einen Nachfolger für Aurel von Milloss zu diskutieren, werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt befassen. Man wird in Wien vielleicht erst in zwei, drei Jahren bemerken, was der Verlust einer bedeutenden, kreativen Künstlerpersönlichkeit bedeutet. Den hochgebildeten, feinen und bescheidenen Menschen werden alle, die ihn gekannt haben, schmerzlich vermissen.

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