Die Wahrheit ist eine Leiter

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Lotte Ingrisch ist keine Betrügerin.

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Lotte Ingrisch ist keine Betrügerin.

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Wollen Sie abnehmen? Machen Sie es doch wie Lotte Ingrisch: ein anstrengendes Gespräch mit dem Jenseits, und eineinhalb Kilo sind weg! Freilich nur für einen Tag. Dann ist man, sagt sie selbst, "wieder komplett." Ist die Dichterin, Witwe Gottfrieds von Einem, die tote Haustiere Teilhard de Chardin in die überirdischen Arme legt, manchmal Metalle biegt und nächtliche "Ausfahrten" zu "den Sternen" unternimmt, komplett übergeschnappt?

Wer sie kennt, zweifelt. Wer ihr jüngstes Buch "Unsterblichkeit" im Sinn Saint-Exuperys "mit dem Herzen" liest, zweifelt immer mehr. Da steht so viel Nachdenkenswertes drin: dass Krankheit eine "Brücke zu einer höheren Organisation des Lebens", der Tod eine "andere Wahrnehmung der Wirklichkeit" ist, dass Medien (sie hält sich für eins) "Mittler zwischen zwei Welten" und "Welten" (also auch Hölle und Paradies) "Zustände des Bewusstseins" sind: "Der Tod verwandelt Natur in Geist. Max Weiler auch."

Versteht sich die Ingrisch einfach aufs Geschäft - besonders, seit Esoterik eins ist? Oder stellt sie ihrem seit Jahren toten Gottfried auch heute noch ein Glas Rotwein nur deshalb auf den Tisch, um ihn nach dem Weggang der Gäste selber zu schlürfen? Irgendwie greifen alle diese Erklärungen, zu denen Spötter hinter ihrem Rücken verlegen Zuflucht nehmen, nachdem sie ihr ins Angesicht zugeprostet haben, zu kurz.

Gottfried von Einem, der viele ihrer paranormalen Ausflüge herzhaft mit ihr teilte, war kein haltloser Phantast. Lotte Ingrisch ist keine Betrügerin. Was aber sind sie dann? Finstere Spukgestalten in einer aufgeklärten Gesellschaft? Oder Hellseher in einer dunklen Welt? Vielleicht keins von beidem, sondern nur dies: Zeugen einer Erfahrung, die über materielle Bedürfnisse und irdische Habsucht hinausweist.

Noch einmal im O-Ton: "Wir alle sind Wahrheitssucher, aber die Wahrheit ist eine Leiter, die wir ersteigen, und auf jeder Stufe kann sie anders erscheinen." Vielleicht sollte man auch darüber nachdenken, warum es mehr Käufer von Ingrisch-Büchern als von kirchlichen Wahrheitswälzern gibt.

Der Autor ist freier Publizist und Vorsitzender der Plattform "Wir sind Kirche".

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