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Diesmal ohne Provokationen

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Wenigstens jedes zweite Jahr erfüllt sich auch heute noch Venedigs nie ausgeträumter, jahrhundertealter Traum einer führenden Stellung in Italien; wenn auch nur für insgesamt acht Tage und ausschließlich auf künstlerischem, das heißt musikalischem, theatralischem und dem Gebiet der bildenden Kunst. Dann aber strahlen ganz plötzlich das Teatro La Fenice, die Sale Apollinee, die Scuola di San Rocco, die luxuriösen Riesensalons des Ca' Giustinian und all der marmor- und goldstrotzenden Palazzi des Canale Grande im Glanz eines internationalen Publikums, dem die Aura der einstigen Weltstadt und Kunstmetropole mit all ihrer Pompentfaltung schmeichelt. Venedig feierte heuer im berühmten Teatro La Fenice sein 31. Internationales Festival Neuer Musik. Mehr denn je ist diese Woche der Avantgarde, die stets gemeinsam mit der Kunstbiennale stattfindet, zu einer exklusiven Veranstaltung für Experten und eine ebenso tapfer auf neue Musik eingeschworene wie illustre Schar von Fans geworden. Sie geben sich allabendlich beim Neuesten vom Neuen, den Uraufführungen der Experimente vor allem, ein Rendezvous.

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Wenigstens jedes zweite Jahr erfüllt sich auch heute noch Venedigs nie ausgeträumter, jahrhundertealter Traum einer führenden Stellung in Italien; wenn auch nur für insgesamt acht Tage und ausschließlich auf künstlerischem, das heißt musikalischem, theatralischem und dem Gebiet der bildenden Kunst. Dann aber strahlen ganz plötzlich das Teatro La Fenice, die Sale Apollinee, die Scuola di San Rocco, die luxuriösen Riesensalons des Ca' Giustinian und all der marmor- und goldstrotzenden Palazzi des Canale Grande im Glanz eines internationalen Publikums, dem die Aura der einstigen Weltstadt und Kunstmetropole mit all ihrer Pompentfaltung schmeichelt. Venedig feierte heuer im berühmten Teatro La Fenice sein 31. Internationales Festival Neuer Musik. Mehr denn je ist diese Woche der Avantgarde, die stets gemeinsam mit der Kunstbiennale stattfindet, zu einer exklusiven Veranstaltung für Experten und eine ebenso tapfer auf neue Musik eingeschworene wie illustre Schar von Fans geworden. Sie geben sich allabendlich beim Neuesten vom Neuen, den Uraufführungen der Experimente vor allem, ein Rendezvous.

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Luigo Nono, der renommierteste Meister der jüngeren Komponistengeneration Italiens, der seine Erfolge nicht zuletzt auch der langen, rückhaltlosen Anerkennung und Unterstützung durch die von ihm so oft provozierte Gesellschaft verdankt, hat sich heuer vom venezianischen Musikfest distanziert. In einem kommunistischen Manifest „I commu- nisti dicono NO!“ — dergleichen ist heute in Venedig häufig anzutreffen — greift er die „privilegierten Spezialisten“, die „gewissenlosen“ Besucher der „faschistischen Biennale“ nicht gerade mit Glacehandschuhen an. Ein Vorfall, der eigentlich zu bedauern ist, um so mehr, als Nono einer der-geistigen Väter dieser stets sensationellen Musiktage war, und seiner Initiative verdankte die Veranstaltung früher manche entscheidende Präsentation.

Nun, all jene, die, radaulüstern und auf Provokation en permanence schon eingeübt, gehofft hatten, daß auch diesem Festival das Schicksal der Eröffnung der Biennale nicht erspart bleiben und daß es durch linksradikale Studenten und Arbeiter boykottiert und gesprengt würde, mußten nach Hause gehen. „Provos“ waren nicht gefragt. Alle zwölf Konzerte und die Europapremiere des Alwin-Nikolais-Balletts aus den USA ernteten ausschließlich Beifall, allerdings eines kühl, selbstsicher und sehr überlegen reagierenden Publikums. Enthusiastisch gebärdeten sich Venedigs internationale Kunstvoyeurs, wie berichtet wird, nur bei Leonard Bernstein und seinem New York Philharmonie Orchestra, das auf der Abschiedstournee für seinen Chef im La Fenice mit den gleichen zwei Programmen gastierte, für deren Wiedergabe es in Wien kurz vorher die ungeteilte Zustimmung von Presse und Publikum erhalten hatte.

Die eigentlichen „Ereignisse“ waren jedoch die Uraufführungssoireen, in deren Rahmen unter Bruno Maderna, Giampiero Taverna, Ettore Grads und anderen Arbeiten von Castiglioni, Gaslini, Gentilucci, Carraro, Fausto Razzi, dann Rolf Riehms „Leonce und und “, Stockhausens „Hymnen“, ein Oboenkonkonzert Madernas, Chorwerke von Goffredo Petrassi sowie Stücke der „Nuova Consonanza“ vorgestellt wurden. Die Attraktion war die Uraufführung der großformatigen Vokalsextette „La curva dell'amore“ und „Rar'ancora“ von Sylvano Bus- sotti. Maestro Bussotti war selbst anwesend, machte, ein zierlicher Renaissanceprinz, in schwarzen Samt gehüllt, in den goldschimmernden Sale Apollinee die Honneurs, befriedigte voll und ganz den Snob-appeal der High-Society, die ihn umschwärmte.

In diesen Sextetten hat Bussotti einen vielleicht sogar folgenreichen Versuch gemacht, nämlich an die Tradition der Madrigalistik eines

Vecchd oder Da Venosa anzuschließen, aus alten Formenmodellen und Kombinationspraktiken und neuen Klangstrukturen eine Synthese zu schaffen. Im ganzen ist ihm damit ein sehr dichtes Stimmengeflecht voll subtiler Effekte und Nuancen gelungen, ein Stück von schwebender Leichtigkeit, erstaunlicher Eleganz, die in der Aufführung des berühmten „Luca-Marenzio“-Sextetts voll zur Geltung kam. Gerade die moderne Chormusik könnte hier einen interessanten Ansatzpunkt finden und gewiß manches profitieren.

Im Grunde war es natürlich ein wahres Dorado für all jene, die ihren Horizont in Sachen Neue Musik erweitern wollten: Mario Labroca, von Beruf „Fenice“-Chef und bei Bedarf Direttore des Festivals, überraschte das heranpilgemde Publikum jedenfalls durch eine mit viel Sachkenntnis ausgewählte und Geschmack zusammengestellte Musikrevue. Besonders was — in Abwandlung des Namens des großen Elektronischen Studios — Italiens „Con- oder Dis- sonanza“ betraf. Um der Information willen, was Italien an neuen Kompositionen anzubieten hat, war man ja angereist. (Dabei sind sechs wertvolle „Entdeckungen“ unter zehn Uraufführungen ein schlechthin hervorragendes Ergebnis.) Hingegen erst in zweiter Linie lockten „Martyre de Saint Sėbastien“ vom Residenz Orchester Den Haag, Werke Weberns, Schönbergs, Bartoks unter Bruno Maderna oder gar Debussys Klavieroeuvre, von Alexis Weissenberg gespielt.

Nun, Italiens Avantgarde scheint mit denen, die aus „musikalischen“ Gründen Opernhäuser in Garagen verwandeln oder in die Luft sprengen wollen, nicht familiär. Das ist keine Musik für ihre Ohren. Und so hat sie Nonos und der Kommunisten Appelle und Proteste ignoriert und sich nicht geziert oder lange bitten lassen. Die jungen wie die arrivierten Komponisten wurden herbeigeholt und traten im Teatro La Fenice sozusagen zur Musterung an: So Goffredo Pertrassi, Bruno Bartolozzi, Elektroniker wie Franco Evangelisti, Bertocini oder Roland Kayn, daneben Russen, Australier, ein Japaner, Stockhausens „Hymnen“, leider nicht mit dem Komponisten am E-Schaltpult.

Im Kammerkonzert unter dem hochbegabten jungen Giampiero Taverna etwa lernte man eine Reihe stilistisch eng verwandter Werke kennen: Francesco Carraras „Berlin 31“, ein subtiles, sehr intimes Stadtporträt; Floskeln eilen einander kanonisch nach. Punkte und Strukturen blitzen auf wie Stadtlichter; Francesco Pennisis „Fossile“, drei fragmentarische Szenen, von T. S. Eliots „Four Quartets“ inspiriert, saubere minuziöse Detailarbeit mit viel Atmosphäre. Beide Stücke sind wert, daß man ihnen wiederbegegnet. Überdies wurde Fausto Razzis

„Improwisazione III“ vorgestellt: viel sanfte bis farblose Klangmalerei, flüchtig hingehauchte Apereus in den Streichern, neurotische Seufzer für einen Bariton (Therman Bailey) und hysterisches Gekreisch für die Soprane. Razzi hat sich offensichtlich Ligetis „Aventures & Nouvelles Aventures“ schlecht abgehört und gründlich mißverstanden.

Von den fünf Uraufführungen des Galaschlußkonzerts unter Ettore Grads hat sich Niccolo Castiglionis „Concerto“ am besten in die Erinnerung eingeprägt, ein formvollendetes Werk, von; Utwraschungen in der Entfaltung der fragilen Strukturen; eßetiÄö '“Arfitctndd 'Gi'ntiltCCdš „Sequenze“, in denen der Komponist zur Überwindung moderner musikalischer Atomisierungstendenzen

kräftig Kantilenenluft holt. Altmeister Gian Francesco Malipieros „Aredodese“, sozusagen eine Handvoll 19. Jahrhundert in Technicolor- breitwandverpackung mit großer Besetzung, Giorgio Gaslinis „Totale I“,

Hinsichtlich der szenischen Präsentation hatte Venedig heuer ausschließlich mit einer einzigen Truppe aufzuwarten. Nun, dem Musikfest folgte inzwischen dn Festival des Prosatheaters, das mit Starensembles aus aller Welt überrdch besetzt ist. Die szenische Aufwartung beim Musikfest machte diesmal die amerikanische Alwin-Nikolais- Dance-Company: Elf Tänzerinnen und Tänzer, absolut Solisten von Klasse, geführt von einem der profiliertesten „freien“ Tänzer Amerikas, Primaballerina Murray Louis, zeigten „Imago oder The City Curious“, eine Kreation ihres Chefs, Mr. Nikolais.

Mit seinen heutigen Arbeiten verfolgt Nikolais nach früheren Experimenten mit Ernst Kfenek („Light Column Line“) etwa und aleatorischen Balletten den Typus des totalen Tanztheaters. Tänzerischen Sequenzen, wie Schreiten, Kreisen, Sich-Aufbäumen in Kakteenformation, Turnen usw., kommt da ebensoviel Bedeutung zu wie den kühnen, in herrlichen Chagall-Farben leuchtenden Kompositionen der Prospekte, den extravaganten Kostümen, von denen übrigens viele Bewegungen inspiriert sind, oder den musikalischen Ereignissen und dem Spiel des Lichts.

Eine Fülle von knisternden Einfällen in jeder Sparte dieses „Gesamtkunstwerks“, überaus originellen Einfällen, Gags, die sich stellenweise geradezu ballen, in theatralischen Explosionen entladen, fesselt immerhin elf ausladende Szenen lang. Und wenn man knapp vor Mitternacht nach ausgiebigen Verabschiedungen das „Fenice“ verläßt — nach gutem Brauch hat's um 21.15 Uhr begonnen —, ist man von der raffiniert fabrizierten Schau kaum ermüdet. Eigentlich wurde man den ganzen Abend den Eindruck nicht los, in einem getanzten „Konzert“ mit einem Schuß Erotik zu sitzen. Das „Stimmenspiel“ der Tänzer, die übrigens entsprechend dem heute aktuellen instrumentalen Einsatz menschlicher Stimmen in der Musik, hier gewissermaßen ebenfalls bald chorisch instrumental, bald als Stimme geführt werden, hat optische Reize. Um so mehr, wenn man, wie hier, bei Nikolais, der ganz im Sinne dieses Großkonzepts selbst für seine elektronischen oder Musique-concröte-Montagcn, seine Dekors, die Lichtmanipulation (mit vielen Schatteneffekten) und die Choreographie sorgt, präzise ge-

brutaler Stilmantsch, mit Jazzelementen aufgeputzt, und Rolf Riehms breite, langweilige, etwas banale Szene „Leonce und und “ kann man ruhigen Gewissens wieder vergessen.

drillte Abläufe in jedem Bereich erlebt. Diese verschiedenen Elemente stoßen in kontrapunktischen Formen aufeinander, erzeugen erstaunlich viel Spannung.

Dynamik ist eines der obersten Gesetze dieser „Imago“: Am staunenden Zuschauer wirbeln fulminante, meist inhaltsfreie Szenen vorbei; in parodierenden Verrenkungen stelzen und hüpfen die Damen und Herren, in mystisch-kultischen Aufopferungen winden sie sich in Ekstase, in Quasidialog und Par- landostellen tanzen sie Persiflagen auf den „modern show dance“. Es ist gewissermaßen Turnen mit Witz und Intellekt, entlang einer zeitgemäßen, ein bißchen modischen Sexlinie.

Nikolais, dessen Henry Street Playhouse immerhin eine Tradition seit 1915 nachweisen kann — er selbst leitet die Tanzabteilung seit 1948 —, forciert im Grunde mit diesem Theater Bestrebungen, die von mehreren amerikanischen Tanzgruppen oder einzelnen Künstlern verfolgt werden: Daniel Nagrin, Edith Stephen und etlichen anderen schwebt genauso die Loslösung vom Nur-Tanz vor, um, von Erkenntnissen Mary Wig- mans oder Martha Grahams ausgehend, auf ähnlichen oder anderen Wegen konsequent neue Lösungen sm finden. Am Rande: Die Konsequenz eines Merce Cunningham fehlt Nikolais allerdings.

Der Abend im „Fenice“ atmete jedenfalls viel Atmosphäre, faszinierte durch amerikanische Präzision, Tempo, Verve, mit der das Ensemble die brillanten Nummern vorexer-

Im ganzen _ gesehen war dieses 31; Festival di Musica CöntSmpöi1' ranea durchaus nicht so bunt gewürfelt, wie dies sonst bei derlei Veranstaltungen manchmal der Fall ist.

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