Ein Weltbürger aus der Provence

Werbung
Werbung
Werbung

Mit sieben Jahren lernte er, Violine zu spielen. Mit 40 floh er aus Frankreich: der Komponist Darius Milhaud (1892-1974). Einige seiner Werke prägen heuer den Carinthischen Sommer.

Am Schluss waren es nicht weniger als 443 Werke, die Darius Milhaud hinterließ. Väterlicherseits einer wohlhabenden Familie alteingesessener jüdischer Kaufleute entstammend, die italienische Mutter eine sephardische Jüdin: Das war die Atmosphäre, in die er 1892 in Marseille hineingeboren wurde. Er wuchs in Aix-en-Provence auf, wo sein Vater das lokale Musikleben prägte. Mit sieben ließ er ihn Violine lernen, spielte bald mit ihm Duett. Im Streichquartett seines Lehrers saß der junge Darius an der zweiten Geige. Dabei lernte er, was er als eine der entscheidendsten Erfahrungen seines Lebens bezeichnen sollte, Debussys Streichquartett kennen. Auch Mussorgsky zählte zu seinen Vorbildern.

Bis in sein Alter - er starb 1974 im Alter von 82 Jahren in Paris - waren es noch Couperin, Rameau, Berlioz, Bizet, Chabrier, die er besonders verehrte, zudem Mozart und Bach. Kaum Zugang fand er zu Beethoven, überhaupt keinen zu Wagner. Milhaud studierte am Pariser Conservatoire, war Mitschüler von Arthur Honegger, Zeuge der Uraufführungen der Strawinsky-Ballette "Petruschka“ und "Le sacre du printemps“. Er machte auch die Bekanntschaft mit dem jungen Arnold Schönberg, dessen "Pierrot lunaire“ er zur französischen Erstaufführung brachte, und 1921 mit dem Dichter Paul Claudel, mit dem ihn eine jahrzehntelange Freundschaft und enge künstlerische Zusammenarbeit verbinden sollte.

Neue, einfache Musik ohne Ballast

Bald finden die in Brasilien erfahrenen Klangfarben und Rhythmen in seine immer noch von Debussy beeinflussten Werke Eingang. Nach zwei Jahren zurück in Paris, findet sich der Meister der Bi- und Polytonalität, der nie die mitreißende Kraft mediterraner Melodik aus den Augen verliert, zusammen mit seinen Freunden Honegger und Georges Auric, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre und Louis Durey in jener Groupe des Six, die sich unter ihrem ästhetischen Wortführer Jean Cocteau zum Kampf für die Moderne zusammenschloss. Aller traditioneller Ballast wird abgelehnt, eine einfache Musik angestrebt.

"Zur Not kann ich auch in Ruhe arbeiten“, antwortete er, angesprochen auf seinen Wohnsitz im Pariser Vergnügungsviertel, am Boulevard Clichy, wo er immer wieder die Orchestrions des nahen Zirkus Medrano durcheinander spielen hört. "Le bœuf sur le toit“, sein von Karnevalsliedern aus Rio inspiriertes Rondo, entsteht in dieser Zeit, auch Lieder, grelle Klavier-Etüden. Léger, Picasso oder Coco Chanel arbeiten mit Milhaud für die Bühnenausstattung seiner Werke zusammen, er selbst tritt als Dirigent auf.

Bei einem London-Aufenthalt lernt er den Jazz kennen, dessen Einflüsse er in seinen Trois-Rag-Caprices für Klavier oder seinem Ballett "La création du monde“ verarbeitet. Als 1930 seine Oper "Christophe Colomb“ nach einem Libretto von Claudel von Erich Kleiber uraufgeführt wird, haben die Nazis Störtrupps in die Berliner Linden-Oper eingeschleust. Hans Heinz Stuckenschmidt, der bedeutende, einflussreiche Kritiker, der diese Premiere selbst erlebt hat, bezeichnet sie als "eine Partitur der üppigsten Farben, dabei von einer monumentalen Einfachheit der Melodie, die in kunstvoller Polyphonie und Polytonie mit sich selbst richtet“.

Rückkehr aus den USA mit 50 Werken

Milhaud, der in dieser Zeit auch seine ironischen opéras minute komponierte, erkennt die Zeichen der Zeit, flieht, längst von rheumatischer Arthritis geplagt, mit seiner Frau und seinem heute als bildender Künstler arbeitenden Sohn Daniel in die Vereinigten Staaten, kann in Kalifornien als Kompositionslehrer an einer Mädchenuniversität von 1940 bis 1947 Fuß fassen. Als er nach Paris zurückkehrt, führt er an die fünfzig in Amerika entstandene neue Werke im Gepäck mit. Unter anderem jenes Streicheroktett, das aus zwei getrennt oder gleichzeitig aufzuführenden Streichquartetten, dem 14. und 15., besteht, eine nicht nur kontrapunktische Meisterleistung. Bis zuletzt wird er mit Kompositionsaufträgen überhäuft, sein letztes, 1970 geschaffenes Opern-Oratorium "Saint-Louis roi de France“ basiert - der Kreis schließt sich - auf Worten seines Freundes Paul Claudel.

Mit einer mehrteiligen Hommage erinnert der Carinthische Sommer an Milhauds vielschichtiges Œuvre, darunter die Minutenopern "Die Entführung der Europa“, "Die verlassene Ariadne“, "Der befreite Theseus“, die Kantate "Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“, Lieder, Kammermusik und das Erfolgsballett "Le bœuf sur le toit“ unter Vladimir Ashkenazy. Eine Daniel Milhaud-Ausstellung ergänzt die Retrospektive.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung