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„Giselle“ und „Peter Grimes“

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Beim Gastspiel des Moskauer „Bolscfioi-Balletts“, über dessen erste beiden Abende wir in der letzten Folge der „Furche“ ausführlich berichtet haben, durfte natürlich auch das Standardwerk des klassischen Repertoires, „Giselle“, nicht fehlen. Seit 1841 hält sich dieses Werk mit der Musik von Adolphe Adam im Repertoire. Das Libretto von Gautier und Saint-Georges hat im Lauf der Jahre allerdings einige Varianten erfahren. Aber Edlen Interpretationen liegt der Entwurf von Coralli und die 20 Jahre später durch Pepita vorgenommene Choreographie zugrunde. Auch der vorläufig letzte Neubearbeiter, Leonld Law-rowskij, hat nicht viel daTan gefinde rt.

Wie groß die „Reserven“ des Bol-■choi-Balletts sind, sah man wieder an dem Abend in der Staatsoper, wo endlich auf der großen Bühne auch das Corps de Ballet Platz zur freien Entfaltung fand. Marina Kondra-tjewa als Giselle ist ebenso brillant wie anmutig, ausdrucksvoll, schwerelos und präzis. Ihr Partner Wladimir Tichonoio gehört heute zweifellos zu den besten seines Faches. Nennen wir noch als solistisch beschäftigte „Willis“ Rimmo Kareslkaja, Ida Wasiljewß und Natalja Taborko. Die Solisten eines großen Pas de deux von unwahrscheinlicher Virtuosität waren Natalja Fillipotoa und Wladimir Nikonow. Das Bühnenbild

Boris Wolkows für den ersten Akt schimmerte in hellgoldenem Herbstlicht: ein Wald mit einer standfesten Hütte, der Hintergrund etwa an das Ufer des Grundlsees erinnernd, zumal mit den zwei spitzen kleinen Kirchtürmen(I). Der Zweite Akt ist ganz nächtliche Romantik: bleiches Mondlicht und unwirklich-traumhaft dahinschwebende Gestalten. — Der Dirigent Kirill Tichonow tat sein Bestes, was man vom Orchester leider nicht behaupten kann. Ein trotz der ungewöhnlichen Preise vollbesetztes Haus, das seiner Begeisterung in Beifallsstürmen Ausdruck verlieh.

Am vorletzten Abend des „Bol-schoi-Balletts“ sahen wir im Theater an der Wien „Chopiniana“ („Les Sylphides“), den zweiten Akt aus „Schwanensee“ und „Walpurgis-nacht“, ein choreographisches Bild aus Gounods „Margarethe“, inszeniert von Leonid Lawrowsky in einem Bühnenbild und mit Kostümen Wadim Rydins: in einem überaus farbenprächtigen neurussischen Makart-Stil. Wieder konnte man Natalia Bessmertnowa, Nina Tlmofe-jewna, Maja Plissetskaja, Wladimir Nikonow und Wladimir Wasiliew bewundern, die für die Ballettfreunde Wiens in dieser kurzen Woche zu Begriffen, für manche vielleicht zu Idolen, für den Kritiker zu Maßstäben geworden sind Aber auch ihre persönliche Ausstrahlung, ihre Menschlichkeit, ihren Ernst und ihren Hu-

mor werden wir so bald nicht vergessen.

Im Theater an der Wien fand durch die Sadler's Wells Opera, die — über 170 Mann stark — mir ihren Solisten, Chor, Orchester und Dekorationen gekommen war, die österreichische Erstaufführung von „Peter Grimes“ statt. Benjamin Britten hat seinen Opernerstling mit 32 Jahren vollendet, und die Uraufführung

durch die Sadler's Wells Opera fand vor genau 20 Jahren in London statt. Man weiß, mit welchem durchschlagenden Erfolg, und daß man von diesem Tag an, dem 7. Juni 1945, eine neue Ära der englischen Opernkunst datiert. So stilgerecht und authentisch die Darbietung durch alle Mitwirkenden unter der Leitung des Dirigenten Charles Mackerras, unter der Spielleitung Basü Cole-mans und mit den Bühnenbildern Alan Taggs gewesen sein mag, so ist diese 20jährige Verspätung dem Werk nicht gut bekommen. Mit seinem Helden, dem neurasthenischen Einzelgänger, der nach einem besseren Leben strebt und dabei den Tod zweier Waisenkinder verursacht, die er • sich, dem damaligen Brauch zufolge, einfach kauft, geht es Britten und seinem Textautor Montagu Slater ähnlich wie Schostakowitsch mit seiner Katerina Ismailowa: er vermag nicht die Sympathie des Publikums für ihn zu gewinnen. Was George Grabbe 1810 in den 24 verifizierten Briefen unter dem Titel „The Borough“ schilderte, waren soziale Mißstände, die von einem Tu-

nichtgut und Sadisten, „der zu Wasser fischte und zu Lande stahl“, ausgenützt wurden. Slater macht aus ihm einen Kleinstadt-Byron: den unverstandenen, von seinen Mitbürgern gehaßten und zuletzt in den Tod getriebenen „Helden“ Peter Grimes.

Ihn eindeutig musikalisch zu charakterisieren ist es Britten, so scheint uns, nicht gelungen. Dagegen zeigt sich die Geschicklichkeit des

Komponisten in den vielen (zu vielen und zu langen) Chorszenen und in den meisterhaft und suggestiv instrumentierten Zwischenspielen, die man auch bei uns als Orchestersuite wiederholt hören konnte. Aber verlangt diese Musik nicht einen offenen Horizont, den Ausblick aufs weite Meer, an dessen Ufer Brittens Elternhaus und das 1947 von ihm erworbene Crag House liegt? Die Eindrücke, die er in Musik umsetzt, sind also echt und unmittelbar. Der Bühnenbildner verbaut jedoch den ganzen Horizont mit einer Szenerle, wie man sie auch in jeder deutschen Kleinstadt finden kann. Unter den Sängern ragen Ronald Dowd als Peter Grimes und Elizabeth Frettoell als Dorfschullehrerin Ellen hervor, die. den ungebärdigen Grimes zum Mann nehmen und dadurch retten will. Ein rundes Dutzend Solisten, der Chor und das Orchester unter der Leitung des ausgezeichneten Dirigenten Mackerras erwiesen sich als äußerst diszipliniert und als denkbar homogenes Ensemble, das vom Publikum lebhaft gefeiert wurde.

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