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Große Totenfeier in Venedig

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Das XXI. Festival Internazionale dl Musica Contemporanea in Venedig stand im Zeichen des Gedenkens an seinen im Februar dieses Jahres verstorbenen Leiter Alessandro P i o-v e s a n, der während der letzten sieben Jahre das Programm dieser bedeutenden Musikfestspiele gestaltet hatte. Ihm verdankten Venedig und die Musikwelt Italiens die Vermittlung des Kammermusikwerkes von Hindemith und sämtlicher Streichquartette Schönbergs, er hat Prokofieffs Oper „Der feurige Engel“, an die sich jahrzehntelang niemand heranwagte, uraufgeführt, und Piovesan war es, der Strawinsky zu dem „Canticum sacrum ad honorem Sancti Marci nominis“ anregte, das, zusammen mit der Bach-Choralbearbeitung Strawinskys, vor zwei Jahren im Dom von San Marco uraufgeführt wurde. — Das

Marc Chagall Widmungsblatt für Strawinsky heurige Musikfest konnte Piovesan noch planen, aber die Ausführung hat er nicht mehr erlebt. Seinem Andenken widmete Igor Strawinsky die für den Nordwestdeutschen Rundfunk geschriebenen „Threni, id est Lamentationes Jeremiae Prophetae“, ein 3 3-Minuten-Werk für sechs Solisten (Sopran, Alt, zwei Tenöre und zwei Bässe), Chor und Orchester (in dem statt der fehlenden Trompeten und Fagotte einige weniger gebräuchliche Baßinstrumente wie Altklarinette, Contralto und Sarrusofon spielen). Strawinsky hat, dem lateinischen, Text der Vulgata folgend, Stellen aus dem.„ erstnjdrittn und iuniten„ Klagelied ausgewählt. Der weitaus umfangreichste ist der Mittelteil, dem er die Untertitel „Querimonia“, „Sensus spei“ und „Solacium“ gegeben hat. — Vor den einzelnen „Strophen“ (es sind deren genau fünfzig) singt der Chor jedesmal (zweisilbig) den betreffenden hebräischen Buchstaben, wie er in wissenschaftlichen Ausgaben der Bibel (Altes Testament) üblich ist (Aleph, Beth, He, Caph, Lamed usw.). Diese besonders kunstvoll gestalteten Interjektionen bilden gewissermaßen den Kitt des umfangreichen, vielgestaltigen und hochkomplizierten Werkes, das trotz seiner zur Schau gestellten und betonten Esoterik von höchster Eindringlichkeit ist.

Strawinsky bedient sich in diesem Opus nicht nur der seriellen, sondern — zum erstenmal — auch der punktuellen Technik. Das ist das Neue an den „Threni“ (Totenklagen). Geistig kehrt er zur Ikonenstrenge seiner Heimat und seiner Jugend zurück. Das wurde auch im ersten Teil dieses Konzertes demonstriert, welches in der prächtigen Sala della Scuola Grande di San Rocco stattfand. Bereits die 1920 geschriebene „Symphonie d'instruments ä vent in memoria m Claude-Achille D e b u s s y“ zeigt diesen Stil einer strengen Zeremonie mit ihren liturgischen Dialogen und Psalmo-dien. Ebenso streng und düster sind die „C a n o n i f u n e b r i“ für Tenor, Streichquartett und Posaunenquartett, die Strawinsky in memoriam Dylan Thomas schrieb, der auf dem Wege zu Strawinsky, mit dem er ein Opernlibretto besprechen wollte, verunglückte. — Lediglich Strawinskys Bearbeitung von Bachs Choralvariationen über „Vom Himmel hoch“ brachten einen lichteren Ton in-dieses feierlich-strenge, dem Totengedenken gewidmete Konzert, das vom Chor und Orchester des Norddeutschen Rundflmks und sechs Solisten, die aus vier verschiedenen Ländern kamen, ausgeführt wurde.

Die Hauptprobe des Werkes leitete Strawinskys junger Freund und Exeget Robert Craft, dem seinerseits das Verdienst zukommt, Strawinsky in die serielle Technik eingeführt zu haben. — Dieser Probe folgte der 76jährige Strawinsky, im leichten grauen Leinenanzug vor einem kleinen Tisch stehend, ohne auch nur einen Blick auf das ausführende Ensemble zu werfen, indem er, mit der Rechten mittaktierend, Note für Note nach der Partitur prüfte.

Das In-Memoriam-Konzert wurde von Strawinsky selbst dirigiert, ebenso ein Festkonzert im blumengeschmückten Teatro „La Fenice“, das mit seinen fünf Rängen und 150 Logen, seinen anmutigen Decken- und Wandbildern und in der Harmonie seiner zarten Aquarellfarben, unter denen Türkis und Mattgold dominieren, wohl als das schönste Theater der Welt bezeichnet werden kann. (Hier wurde vor sieben Jahren auch Strawinskys Oper „The Rake's Progress“ uraufgeführt). — Dieses Festkonzert in „La Fenice“ war ein Bekenntnis zur eigenen Jugend, zur Vergangenheit. Zwei epochemachende Werke standen (als einzige) auf dem Programm: „Le Sacre du Printemps“ von 1913, von dem der Freund Arthur Honegger sagte, dieses Stück habe seinerzeit wie eine Atombombe gewirkt, die die gesamte Satztechnik und den Stil einer Zeit umwarf, eine Bombe, die von dem weisesten und willenstärk-stenaller.JCpmppnjsteri ersonnen und, geworferrwpr-fenjdWr.jr ujtf, .in..einer konzertante „O e d i p u s Rex“ von 1926/27, gleichfalls ausgeführt vom Chor und Orchester des Hamburger Rundfunks. Natürlich hat man Strawinsky gefeiert, aber man tut das hier im Teatro „La Fenice“ mit Maß und mit einer Zurückhaltung, die fast schon wie Snobismus anmutet.

Nun wird, wenn nichts mehr dazwischenkommt, das musikalische Wien bald die Freude haben, Strawinsky begrüßen zu dürfen: den letzten Ueberleben-den aus der Reihe der großen Alten, die der Musik unserer Zeit ihren Stempel aufgedrückt haben.

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