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Musik am Genfersee

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Zum drittenmal berichten wir an dieser Stelle über das Festival de Musique Montreux-Vevey, auch „Septembre musical“ genannt und heuer zum 25. Mal stattfindend. Die Veranstaltungsreihe begann Ende August mit dem Budapester Symphonieorchester unter György Lehel und Yehudi Menuhin als Solist und endet am 4. Oktober mit einem Konzert der Hamburger Philharmonie unter Wolfgang Sawallisch. — Ein Allerweltsfestival mit Gästen also? Keineswegs. Denn zwischen diesen beiden Eckpfeilern behauptet sich, ja dominiert durchaus das Einheimische...

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Zum drittenmal berichten wir an dieser Stelle über das Festival de Musique Montreux-Vevey, auch „Septembre musical“ genannt und heuer zum 25. Mal stattfindend. Die Veranstaltungsreihe begann Ende August mit dem Budapester Symphonieorchester unter György Lehel und Yehudi Menuhin als Solist und endet am 4. Oktober mit einem Konzert der Hamburger Philharmonie unter Wolfgang Sawallisch. — Ein Allerweltsfestival mit Gästen also? Keineswegs. Denn zwischen diesen beiden Eckpfeilern behauptet sich, ja dominiert durchaus das Einheimische...

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Seit 1968 ist Ren6 Klopfenstein, ein vielseitig gebildeter und versierter Musiker, übrigens auch ein ausgezeichneter' Haydn- und Schubert-Interpret, der künstlerische Leiter dieses Festivals, in dessen Rahmen für Schock und Publikumsbeschimpfungen kein Platz ist. Das Programm bestimmen durchaus die Werke der Klassik und Romantik (einschließlich Bach und Richard Strauss). Aber man zeigt sich dem Zeitgenössischen aufgeschlossen: In der Turbinenhalle des nahegelegenen Aigle spielte ein Ensemble der IGNM aus Basel Werke von Boulez, Berio und Ligeti, Heinz Holliger, Jörg Wyttenbach und Vinko Globokar. Und man hat zwei Kompositionsaufträge für das Jubiläumsjahr vergeben: an die beiden Schweizer Komponisten Heinrich Sutermeister und Julien Francois Zbinden. Die beiden Auftragswerke heißen „Serenade pour Montreux“ und „Lemanic 1970“, aber nur die erstgenannte Komposition konnten wir hören. (Denn um über alle Konzerte berichten zu können, müßte man sich für einen guten Monat am Genfersee niederlassen, dessen einzigartiges „musikalisches Klima“ wir 1968 in Nr. 39 und 1969 in Nr. 41 ausführlich geschildert haben.)

Die Uraufführung der „Serenade pour Montreux“ von Heinrich Sutermeister fand im Rokoko-Theater des Casinos durch das Kammer-Orchester des Pariser Rundfunks (ORTF) unter der Leitung von Andre Girard statt. Der erfolgreiche Opernkomponist („Romeo und Julia“, „Niobe“, „Raskolnikow“ und „Madame Bo-vary“) schrieb das dreisätzige Werk für vier konzertierende Blaser und Streichorchester. Auf das einleitende „Nocturne“ folgen „Carillon“ (aber ohne Glocken!) und „Hymne“. Anklänge an Frank Martin, den gebürtigen Genfer, und Strawinsky, der mehrere seiner besten Kompositionen in nächster Nähe von Montreux, nämlich in Vevey und in Morges schuf, wo er viele Jahre wohnte, sind unüberhörbar. Aber man konstatiert und wertet diese Anklänge als Huldigung an den Genius loci und Bekenntnis zu einem Musizieren, das auch von einem konservativen Publikum verstanden werden kann. Der Erfolg für den anwesenden Komponisten und die Ausführenden war entsprechend.

Dieses Konzert war auch insofern bemerkenswert, als man es einmal erlebte, wie unter gewissen Umständen Mozart „abzufallen“ vermag. Das einleitend gespielte „Troisieme concert en sextuor“ von Rameau und das Konzert für Flöte und Orchester des Rameau-Zeitgenossen Michel Blavet mit seinen konzisen Sätzen Allegro-Gavotte I und II und dem

Allegro-Finale erwiesen sich im Vergleich mit Mozarts Divertimento KV 334, dessen übermäßige Länge von 40 Minuten nicht der Substanz entspricht, als besser gelungen. Daß sich das Gefühl der Länge, zuweilen der Langeweile, einstellte, lag nicht an der Ausführung und auch nicht an der Programmgestaltung. Die vorzügliche Solistin des Blavet-Kon-zertes war die im Jahr 1968 mit dem ersten Preis ausgezeichnete holländische Flötistin Solita Cornelis. (In Montreux gibt es nämlich alljährlich, neben dem Prix Mondial du Disque, über den wir bereits berichteten, auch einen Internationalen Flötenwettbewerb, den heuer zwei Franzosen gewannen, die ja eine besonders berühmte Holzbläserschule haben.)

Zweimal konzertierte das Musikkollegium Winterthur. In der Kirche St. Martin in Vevey spielte es unter Reni Klopfenstein die Haffner-Symphonie von Mozart und die „Vierte“, im Programmheft als „Tragische“ bezeichnete Symphonie von Schubert. Hier erwies sich, wie im vergangenen Jahr, der Dirigent als ein Meisterinterpret der Wiener Klassik und Romantik, der es wagt, auch weniger bekannte, hier kaum gespielte Werke aufs Programm zu setzen. Die Solistin von Mozarts Motette „Exultate, jubilate“ war die Schweizer Sopranistin Elisabeth Speiser, die als Interpretin von Bach-Kantaten und als Oratoriensängerin zurecht den allerbesten Ruf hat.

Von ganz anderer Art war das Programm eines Konzerts im großen, akustisch verbesserten Saal des Pavillons unter dem portugiesischen Dirigenten Silva Pereira, eines ehemaligen Swarowsky-Schülers, der jetzt Chefdirigent von Porto und Präsident des Internationalen Musikrates ist. — Erstaunliche Einfühlung in den Stil der Wiener Schule zeigten Orchester und Dirigent in Schuberts 5. Symphonie und Joseph Haydns Trompetenkonzert, dessen Solist einer der brillantesten französischen Trompeter, Roger Delmotte, war, der so lebhaft akklamiert wurde, daß er den letzten Satz wiederholen mußte. — Daß die Winter-thurer auch „Spanisch“ können, erwiesen sie bei der temperamentvollen und klangschönen Wiedergabe der Ballettsuite „El amor brujo“ von Manuel de Falla. Ihr ging die reizvolle „Pastorale d'ete“ von Arthur Honegger voraus, die wir in Wien schon lange nicht mehr gehört haben.

Ein Höhepunkt intensiven und werkgerechten Musizierens war das Zusammenspiel Pierre Fourniers und Jean Fondas, die ausschließlich Beethoven-Werke auf ihr Programm gesetzt hatten ... Der Weg von der 2. zur 3. und von da zur 5. Cellosonate op. 102 Nr. 2 führt steil bergan. Nur so hervorragende Musiker wie Fournier und Fonda vermögen ihn nachzuzeichnen. Nach diesem Höhepunkt mußten die Variationen über ein Thema aus Händeis „Judas Makkabäus“ ein wenig abfallen, trotz technischer Brillanz der Ausführung.

Außer den genannten Ensembles und Solisten wirkten beim Jubiläums-Festival von Montreux noch mit: die Pianisten György Cziffra und B. L. Gelber, der Geiger Hansheinz Schneeberger und der Organist Jean Guillou, das Kammerorchester Lausanne und der Festspielchor (bei Händeis „Messias“ unter Andre Charlet und Beethovens „Neunter“ unter dem japanischen Dirigenten Hiroyuki Ikavoi). Bach und seinen Söhnen waren die Konzerte des Collegium academioum und des Choeur de la Salette, Genf sowie der Schola Cantorum Basiliensis gewidmet ...

Man sieht: ein nicht nur extensives, sondern auch gehaltvolles Programm.

Aber nicht nur deshalb trennt man sich schwer von Montreux. Die liebliche Landschaft, eine Symphonie aus dreierlei Blau, die vielen musik-historischen und literarischen Erinnerungen machen den Abschied schwer; nicht zu vergessen die immer noch vorbildliche Schweizer Hotellerie (bei der für uns noch manches zu lernen wäre), ob es sich nun um das „Europe“, das Hotel „Helvetie“ oder „Eden“ handelt — Namen sind Schall und Rauch. Hier ist überall etwas vom Garten Eden ...

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