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Musik aus Frankreich

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Paul P a r a y, der langjährige Dirigent des Pariser Colonne-Orchesters, war nach Roger Desormieres der zweite Gastdirigent, den uns Frankreich sandte. Als Künstler und Musiker weiß Paray sehr genau, was er will. Als Dirigent gehört er jenem Typus an, der mit seinen Bewegungen nicht spart, ja manchmal auf den Zuschauer geradezu tänzerisch wirkt. Diese Art zu dirigieren erwies sidi bei ihm aber als durchaus berechtigt, da sich seine suggestiven und mitreißenden Bewegungen auch weitgehend auf das Orchester, auf jeden einzelnen Spieler übertrugen. Selbstverständlich feierte diese Art des Dirigierens Triumphe in den virtuosen Orchesterballaden von „Till Eulenspiegel“, in Dukas „Zauberlehrling“ und in den „Zehn Bildern einer Ausstellung“ von Mussorgski in der farbigen Instrumentierung von Ravel. Am eigentümlichsten und reizvollsten aber bewährte sich Parays Art der Interpretation an der III. Symphonie von Brahms. Dreierlei gelang hier dem Dirigenten in ganz hervorragender Weise: die Dramatisierung der bewegten Ecksätze der Symphonie, die Herausarbeitung auch der feinsten klanglichen Reize der Partirur und eine zugleich plastisdie und gleichsam tänzerisch bewegte Gestaltung der einzelnen Themen (besonders vom Rhythmischen her), so daß man viele Stellen zum erstenmal zu hören vermeinte. Wir haben in Paul Paray einen ausgezeichneten Künstler kennengelernt, und das Gesellschaftskonzert der Philharmoniker, welches er leitete, war eines der besten dieser Spielzeit. Es war deshalb eine glückliche Wahl, die die Wiener Phih harmoniker getroffen haben, ihre erste Auslandstournee in die Schweiz, nach Frankreich und England gerade unter diesem Dirigenten anzutreten. Paul Paray sieht den Hauptzweck dieser Reise darin, die Beziehungen zwischen Frankreich und Österreich zu vertiefen und einen Großteil des Reinertrags dieser Konzerte für den Wiederaufbau der Wiener Staatsoper zur Verfügung zu stellen. Besonders hervorgehoben zu werden verdient, daß sich Paul Paray während der vergangenen Jahre nicht nur als Künstler, sondern auch als Charakter und als Persönlichkeit bewährt hat. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris sollte dem Colonne-Orchester, dessen Gründer .angeblich Nichtarier war, der Name genommen werden. Daraufhin demissionierte Paray und legte im folgenden Jahr auch die Leitung der Radiostation nieder. Er lehnte, öffentlich und weithin sichtbar, jede Zusammenarbeit mit den Okkupationsbehörden ab und zog sich während der letzten Zeit in den unbesetzten Süden nach Monte Carlo zurück. Von dort kehrte er, stürmisch gefeiert, im Herbst 1944 an seinen alten Posten nach Paris zurück.

Charles Munc h, der Leiter der Konzerte des Pariser Konservatoriums, dirigierte das letzte Gesellschaftskonzert der Philharmoniker. Er ist als Dirigententypus von Paray nicht wesentlich verschieden: ein temperamentvoller Dirigent, Dramatiker par excellence und Meister der großen symphonischen Steigerungen. Diese Eigenschaften kamen der 1830. geschriebenen „Symphonie fantastique“ von Flector Berlioz glänzend zustatten. Doch steht für den Hörer von heute— ohne daß hier der Wert oder Unwert der Gattung Symphonische Dichtung, die durch Berlioz eingeleitet wurde, erörtert werden soll — der Aufwand an Mitteln in keinem Verhältnis zum musikalischen, insbesondere zum thematischen Gehalt des Werkes. Die dirigentische Leistung Münchs gerade bei der Interpretation dieses Werkes war meisterhaft und ließ kaum einen Wunsch offen. Eine größere Freude aber machte uns der Dirigent mit Ravels symphonischer Dichtung „Daphnis und Chloe“, diesem gänzen-den Orchesterstück von nobelster Inspiration, das alle Vorzüge einer fortentwickelten impressionistischen Schreibweise aufzeigt, ohne unter den Schwächen dieses Stiles zu leiden. Die Philharmoniker (es gibt nicht viele Or-chestet auf der Welt, die den technischen Anforderungen dieses Werkes gerecht werden) konnten sich glänzend bewähren und hatten ihren großen Tag.

Den Solopart des „Poemes“ von Ernest Chausson und Ravels „Tzigan“ spielte Gi-nette N e v e u, die zur Zeit als Frankreichs beste Geigerin gilt. Und in der Tat: auch die höchsten Erwartungen wurden durch ihr Spiel übertroffen. Ginette Neveu hat alles, was von einer Geigerin von Format gefordert werden kann: eine stupende Technik, die auch die größten Schwierigkeiten meistert, einen prachtvoll farbigen Ton und eine reife, hohe Musikalität. Ihr leidenschaftliches Temperament verleiht auch lyrischen Stellen, über die man sonst hinweggehört hat, eine fast schmerzende Intensität von tragischer Färbung. Ihr Spiel bedeutet: höchste Virtuosität; und viel mehr als das: reifes, ernstes Künstlertum, das in nichts mehr an das Wunderkind, welches sie einmal war, denken läßt. Hier ist nicht nur geigerischer „Nachwuchs“, sondern hier ist eine berufene Erbin jener großen nationalen Tradition, wie sie etwa ein Jacques Thibaud verkörpert.

Im Rahmen zweier Meisterkonzerte spielte Jacques Thibaud die Violinkonzerte von Mozart (G-Dur) und Mendelssohn, die Kreutzersonate von Beethoven und die Sonate von Cesar Franck sowie, jeweils im zweiten Teil des Programms, eine Reihe kleinerer Stücke, wie sie auch sonst in den Vortragsfolgen von Violinabenden anzutreffen sind. 1880 geboren, gehört Jacques Thibaud zur älteren Generation und blickt auf ein reiches und erfülltes Leben im Dienste der Kunst zurück. Sein Spiel aber hat an Temperament und jugendlichem Feuer kaum verloren, dagegen an jener Tiefe und Einsicht gewonnen, die keine Intuition der Jugend zu schenken vermag. Am überzeugendsten offenbarte sich seine reife Künstlerschaft in den klassischen Werken und in der herrlichen Franck-Sonate, die — sooft man sie auch gehört haben mag — in der Wiedergabe von Thibaud in neuer Schönheit erglänzt. Thibaunds Technik ist in seltenem Maße vergeistigt und läßt uns das Virtuose, die gemeisterte Schwierigkeit, kaum mehr empfinden. In diesen beiden Konzerten zeigte das Publikum, daß es auch für anspruchsvolle, edle Kunst noch zu begeistern ist. Der weniger anspruchsvolle Teil der Zuhörer kam mit einer ganzen Reihe von Zugaben, die den künstlerischen Gesamteindruck ein wenig zu gefährden drohten, in jeder Hinsicht auf seine Rechnung.

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