Publikumsliebling, Ikone, Besessener

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Rossini, der Genießer? Der Liebhaber feiner Speisen und Schöpfer wohlklingender Musik verbarg auch eine dunkle Seite, die von Krankheit und Depressionen geprägt war.

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Rossini, der Genießer? Der Liebhaber feiner Speisen und Schöpfer wohlklingender Musik verbarg auch eine dunkle Seite, die von Krankheit und Depressionen geprägt war.

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Giuseppe Verdi hat seine Frühzeit als Opernkomponist, in welcher er eher "der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb" im Jahrestakt die italienischen Bühnen mit neuen Werken "beliefern" musste, seine Galeerenjahre genannt. Gioachino Rossinis Opernschaffen während des Jahrzehnts zwischen 1810 und 1820 muss uns Heutigen wie eine chronisch manische Phase erscheinen. Nicht weniger als 30 Bühnenwerke entstanden in diesem Zeitraum, und in einigen Jahren verließen sogar jeweils vier Stücke seine Komponierwerkstatt. Die durchwegs erfreuliche Kassenbilanz erhöhte den Druck der Impresari und Prinzipale der musikalischen Theater auf ihren zuverlässigen Erfolgsgaranten. Nicht selten blieb da dem Musiker vom Auftrag bis zur Fertigstellung und Uraufführung eines neuen Werkes kaum mehr Arbeitszeit als bloß ein Monat.

Ein schier unfassbarer, geradezu bizarrer Befund, hält man das Zeitbudget gegenwärtiger Komponisten bei einem Auftragswerk dagegen! Rossini musste bisweilen im Schnittbereich von zwei Opern zugleich arbeiten. Er übernahm oder adaptierte daher Passagen, sogar ganze Ouvertüren einer älteren Oper, wenn ihm die Schaffenszeit allzu sehr davoneilte. Die berühmt-berüchtigte "letzte Minute" geriet bei ihm von der Ausnahme zum Regelfall. Anekdoten, wonach der Komponist unter argem Termindruck musikalische Noten auf die Manschetten seiner Hemden schrieb, machten die Runde und wollen bis heute nicht verstummen. Dichtung oder Wahrheit? Dichtung und Wahrheit!

Wien im "Rossinitaumel"

Als bereits anerkannter Meister versetzte Rossini 1822 während seines viermonatigen Aufenthalts als Dirigent und bewunderte Person des öffentlichen Lebens das musikalische und gesellschaftliche Wien in den oft zitierten "Rossinitaumel", den unser modischer Wortschatz nun wohl einen Hype nennen würde. Auch Komponisten wie Beethoven und Schubert konnten sich dem Zauber des Künstlers wie des Menschen nicht ganz entziehen, was sich bei Schubert mitunter sogar kompositorisch niederschlug.

Folgte auf die Schöpfung eine Erschöpfung? Ruhte sich der Rossini der späten 1820er-Jahre auf seinen wohlerworbenen Lorbeeren aus? War er etwa schaffensmüde oder, schlicht gesagt, ziemlich ausgebrannt? Unser zeitgeistiges Vokabel Burnout fehlte zwar damals noch als einschlägiger Ausdruck, es trifft aber symptomatisch voll und ganz ins Schwarze! Man kann diese neue Langsamkeit - im gegenwärtigen Wortschatz "Entschleunigung" genannt - aber auch als zunehmende Gelassenheit und wachsende Sorgfalt bei der kompositorischen Arbeit deuten und verstehen. Sein letztes Bühnenwerk "Guillaume Tell" (1829) legt eine solche Interpretation jedenfalls nahe genug: ein ideell bedeutsames Sujet, ein vieraktiges Musikdrama als Scharniere zur französischen "Grand Opéra", dazu eine Vorstufe der späteren Literaturoper, indem hinter dem Libretto das vielgerühmte Schauspiel Friedrich Schillers in seinen Wesenszügen erkennbar bleibt.

Über diesen behutsamen Umgang mit der literarischen Vorlage hat sich auch Richard Wagner in dem kolportierten Gespräch mit Rossini anerkennend geäußert - was auch dem Ideal des Dichterkomponisten im Sinne eines Zusammenspiels von Wort und Ton entsprach. Traditionelle Formen und progressive Momente halten sich im "Tell" die Waage. Aber selbst herkömmliche Versatzstücke wie das Ballett oder die großen Chöre übernehmen eine dramaturgische Aufgabe. Einzelne Arien verweisen bereits auf musikalische Monologe einer späteren Epoche. Und die auch als Konzertstück beliebte Ouvertüre erinnert in ihrer Vierteiligkeit an die Bauform einer Symphonie. Episoden wie die Gewittermusik, die pastorale Idylle oder der finale militante Galopp (von Stanley Kubrick in seinem Film "A Clockwork Orange" verwendet) sind weit über das übliche Potpourri hinaus thematisch eng mit der Handlung verknüpft.

Der andere Rossini

Über Gioachino Rossinis bleibenden Opernerfolgen sollte man nicht vergessen, dass dieser angeblich so lustvolle Genießer und Schöpfer nicht bloß feiner Musik, sondern auch feiner Speisen seine psychischen Abgründe hatte. Denn Rossini war ein genial begabter, aber häufig von schweren Depressionen und schmerzhaften Krankheiten geplagter Mensch, der sich immer wieder gleichsam selbst aus dem Dunkel erhob, sich selbst therapierte - sei es durch den Rauschzustand besessenen Komponierens, sei es durch die hohe Kunst des Spaghettikochens, bevorzugt mit Trüffeln. Erst im Alter, in seiner Pariser Villa, geliebt und gepflegt von seiner aus der Halbwelt stammenden zweiten Frau Olympe, wurde der wohlbeleibte Herr mit seinem scharfen Witz und seiner treffsicheren Beobachtungsgabe zur lebenden Legende - der sogar sein Widerpart Richard Wagner ehrlichen Respekt zollen musste.

Rossini war als Musiker nie verstummt. Früh hatte er begonnen zu komponieren, und nicht für die Bühne. Sechs erstaunliche Streichersonaten schrieb er als 12-jähriger Musikschüler für einen wohlhabenden Freund seiner Familie, der zwar Kaufmann war, jedoch mit Gusto Kontrabass spielte. Später notierte der mit Selbstironie gesegnete Rossini auf der Partitur, er habe die Stücke in "drei Tagen" komponiert, ohne dass er auch "nur eine einzige Stunde Generalbass gehabt hätte". Außerdem seien die Sonaten im Familienkreis des Kaufmanns "auf hundserbärmliche Weise" gespielt worden. In Wahrheit waren ihm kleine Kostbarkeiten gelungen, formal der Wiener Klassik und vor allem Mozart folgend, sprühend vor jugendlicher Frische und wachem Geist, immer wieder mit einer Sonderrolle für den Bass versehen.

Hymnen, Lieder, Sünden des Alters

Nach dem Abschied von der Oper hörte er nicht auf, Musik zu erfinden. Kantaten, Hymnen und Chöre entstanden zu bestimmten Anlässen - 1867 sogar noch eine "Hymne à Napoléon III". Kompositionen, die allesamt nicht mehr sind als gekonnte Gelegenheitswerke. Doch schrieb er auch reizvolle Lieder für seine berühmten, in jeder Beziehung kulinarischen Salonabende. Die im Titel darauf Bezug nehmende Sammlung "Soirées musicales", eigentlich "Serate musicali", aus den Pariser Jahren 1830 bis 1835 gehört zu den Kleinodien italienischer Gesangskunst. Daraus stammt die wild wirbelnde Tarantella "La Danza", die in mancherlei Arrangements populär geworden und in das Repertoire der "Ritter vom hohen C" eingegangen ist.

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