6611829-1955_04_11.jpg
Digital In Arbeit

Russische Bauernhochzeit und zwei Liederabende

Werbung
Werbung
Werbung

In seinen Erinnerungen an Igor Strawinsky erzählt der waadtländische Dichter C. F. Ramuz eine reizende Episode aus der Zeit, als Strawinsky am Klavierauszug der „Russischen. Bauernhochzeit“ (Les Noces) arbeitete. Aus seinem Arbeitszimmer in der Villa Mornand tönte wilder rhythmischer Lärm auf den sommerlich-verschlafenen Platz von Morges am Ufer des Genfer Sees. Einige ältere Frauen, die dort strickend unter einem Baum saßen, hoben von Zeit zu Zeit verwundert die Köpfe und stellten dann fest: „C'est le monsieur russe!“ Drei Jahre lang arbeitete Strawinsky an der Komposition dieses 20-Minuten-Werkes, und fünf weitere Jahre dauerte es, bis er die Instrumentation vollendet hatte. 1923 wurden diese choreographischen Szenen mit Gesang und Musik durch das russische Ballett unter der musikalischen Leitung von Ernest Ansermet in Paris uraufgeführt. Drei Jahre später gab es bei der Londoner Premiere unter Diaghilew einen Skandal, der sich mit dem des „Sacre du Printemps“ von 1913 durchaus messen konnte. Gerade dieses Werk zeigt, wie der Verstoß gegen die gewohnten Klangvorstellungen ein Vorstoß in Neuland und anregend für eine ganze Generation von Komponisten sein kann. (Carl Orff und seine Schüler sind ohne dieses aufrüttelnde, frische und starke Stück kaum denkbar . . .) Wir hörten „Les Noces“ in einer ausgezeichneten Aufführung unter der Leitung von Michael G i e 1 e n im Mozart-Saal des Konzerthauses. Der Wienet Kammerchor und die Solisten Ilona Steingruber, Herbert Handt. Margarete Sjöstedt und Eberhard Wächter hatten sich kopfüber mit bemerkenswerter tourage (und ohne Rücksicht auf Verluste) in das Abenteuer der russischen Sprache gestürzt. An den vier Klavieren hämmerten Erna Heiller, Hans Graf. Alexander Jenner und Hermann Nordberg, unterstützt von einer ganzen Batterie von Schlagwerkern, munter drauflos und verhalfen dem eminent schwierigen und originellen Werk zu einem durchschlagenden Erfolg. — Im gleichen Konzert spielte das Kammerorchester eine von Anton von Webern farbig instrumentierte „Fuga ricercata“ aus dem „Musikalischen Opfer“ von J. S. Bach sowie das an dieser Stelle bereits besprochene „Concerto in D“ aus dem Jahre 1946 von Strawinsky und begleitete Luise Dreyer-Zeidler in einem wenig bekannten Harfenkonzert von Händel, das freilich nicht zu den Meisterwerken des großen Komponisten zählt.

Als „Les Noces“ — fast zehn Jahre nach der Konzeption — endlich uraufgeführt wurden, war Strawinsky schon wieder einen Schritt weiter. Die „Serenade in A“ für Klavier allein ist in der Art der Divertimenti und Notturni des 18. Jahrhunderts geschrieben. Nach einer feierlichen Einleitung, einer Art Hymne, folgt ein „Solospiel“ als zeremonielle Huldigung des Künstlers an die Gäste; der dritte Satz ist ein Tanzstück und der letzte schließt, gleichsam als Unterschrift, mit zahlreichen sorgfältig kalligraphierten Schnörkeln. — Wieder zehn Jahre später (1932) hat sich Strawinsky um einen weiteren Schritt dem apollinischen Schönheitsideal genähert. „Meine Vorliebe für die bukolischen Dichter des Altertums und für die weise Kunst ihrer Tachnik hat Geist und Form meines Konzertanten Duos bestimmt.“ Wolfgang Schneide r h a n, begleitet von Carl Seemann, spielte das schöne und bedeutende Werk mit noblem Ausdruck und klassisch-vollendetem Ton im dritten Konzert des Zyklus „Barockmusik und Neue Musik“.

Wenig ergiebig war leider das zweite außerordentliche Konzert der Wiener Symphoniker unter der Leitung des jungen Dirigenten Andre van der Noot. Die beiden erstauf-gefiihrten Werke der belgischen Komponisten Matcel P o o t (Sinfonietta) und Frederic D e-v r e e s e (Klavierkonzert, op*. 5. Solist Hans Graf) sind recht unoriginelle und epigonale Stücke: das erste bieder-routiniert, das zweite eklektisch, mit Anklängen an Rachmaninow, den frühen Strawinsky, Prokofieft und — Gershwin.

Wegen des belgischen Konzerts mußte der Referent den ersten (italienischen) Zyklus im Liederabend von Dusolina Giannini versäumen.' Vom ersten Ton des Mignonliedes „Kennst du das Land“ von Hugo Wolf war man angerührt, interessiert und schließlich, nach den Goethe- und Eichendorff-Liedern Schumanns, begeistert: über die in der mittleren und tieferen Lage volltönende und wohllautende Stimme, über die zauberhafte Balance von Wort und Ton (zwischen deutsch-romantischer Stimmung und italienischem Wohllaut), über die klug-vorsichtige Führung der Gesanglinie und über die Kultur des Vortrags.

Die bekannten Qualitäten Irmgard Seefrieds sind anderer Art, und man verfolgt mit Bewunderung, wie sie eingesetzt werden. — Vier deutsche Volkslieder waren ein schöner, vielversprechender Anfang. Mussorgskys genial-spielerische „Kinderstube“ ist im Konzertsaal eine Kalamität. (Darüber kann man nicht viel sagen, das muß man fühlen!) Wenn schon, dann in der Interpretation dieser Sängerin, die vor allem vom Wort her meisterhaft gestaltet und stilisiert. Die Liedfolge des zweiten Teils — Hugo Wolf, Pfitzner und Strauß — war sehr auf Kontraste gestellt und wirkte etwas unruhig. Erik Werba, der auch Dusolina Giannini begleitete, war hervorragend, was man in jeder Hinsicht auch vom Vortrag und von der Effektsicherheit Irmgard Seefrieds sagen kann

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung