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Spitzentanz aus Leningrad

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In seinem Lebensbericht „Chronique de ma vie“ rühmt Strawinsky, der selbst rund ein Dutzend Ballette geschrieben hat, die Qualitäten des klassischen Balletts, „welches in seinem Wesen, durch die aristokratische Schönheit seiner Form am vollkommensten meiner Kunstauffassung entspricht. Denn hier, im klassischen Ballett, sehe ich die kunstvolle Konzeption über die Abschweifung triumphieren, die Regel über das Willkürliche, die Ordnung über das Zufällige“.

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In seinem Lebensbericht „Chronique de ma vie“ rühmt Strawinsky, der selbst rund ein Dutzend Ballette geschrieben hat, die Qualitäten des klassischen Balletts, „welches in seinem Wesen, durch die aristokratische Schönheit seiner Form am vollkommensten meiner Kunstauffassung entspricht. Denn hier, im klassischen Ballett, sehe ich die kunstvolle Konzeption über die Abschweifung triumphieren, die Regel über das Willkürliche, die Ordnung über das Zufällige“.

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Ein Fest klassisch-akademischen Tanzes in höchster Vollendung bescherte der erste Abend des Leningrader Kirow-Balletts mit seiner Aufführung von Tschaikowskys „Domröschen“ in der ungekürzten Fassung. Von den rund 200 Ballettmitgliedern des Kirow-Theaters, das zur Zeit 34 große klassische und neue Werke im Repertoire hat, sah man ein ausgewähltes Ensemble, geführt von Stars wie Natalia Makarowa, Alla Sisowa oder Sergej Wikulow. Sie exerzierten fast vier Stunden lang Marius Petipas 1890 geschaffene Meisterchoreographie vor, ein Muster für alle ähnlichen vom Stil der großen höfischen Repräsentationsballette geprägten Werke, eines der Stücke, das seit der glanzvollen Uraufführung im Petersburger Marientheater mit aller Akribie konserviert wurde. Geringfügige Änderungen hat das Werk lediglich in pantomimischen Einlagen oder einzelnen Episoden im Libretto erfahren, und zwar meist von Fjodor Lopuchow. Die „Redaktion“ der in Wien gezeigten Fassung des „Dornröschen“ besorgte Konstantin Sergejew.

Nun, die Wiener Aufführung im Theater an der Wien, im Szenischen (Bühnenbild mit viel flacher Prospektmalerei: Simon Wirsaladee) im ganzen extrem konservativ, um nicht zu sagen etwas staubig und phantasiearm, litt vor allem durch die Enge des Buhnenraums, wo die Scharen der Höflinge und-Feen ihre Ensem-i bles zeitweise nicht genügend frei austanzen konnten. Und während der großen Soli, die die ganze Bühne beanspruchen, mußte das Corps ganz zur Seite treten, was auch nicht unbedingt den vorteilhaftesten Eindruck machte.

Davon abgesehen konnte man die tänzerischen Einzelleistungen nicht genug bewundern: Alla Sisotua als Prinzessin Aurora (bei der Reprise tanzte Ninella Kurgapkina die Partie) ist ein bezauberndes Geschöpf, scheinbar schwerelos, eine ideale Märchenprinzessin, die — wenn's not tut — auf Wolken wandeln kann, ein Wesen, dem man den Umgang mit Flieder- und Brillantenfeen ganz gern glaubt. Frappierend, mit welcher Anmut sie die schwierigsten Pas und Figuren ausführt, ganz so, als handelte es sich um die leichtesten Übungen, um sich aufzuwärmen. Nina Grusdjewa war die Beschützerin Fliederfee, eine Tänzerin, die matronenhafte Würde auszustrahlen weiß, deren eleganten, ebenmäßigen Attitüden und Arabesken das Königliche ihrer Märchenprofession anhaftet. Ein tänzerisches Ereignis: Sergej Wikulow als Blauer Vogel. Den Boden scheint er in seinem poesievollen Pas de deux im Hochzeitsakt gar nicht zu berühren, die Bewegungen sind von selten gesehenem Ebenmaß, ästhetischer Perfektion.

Vielleicht den großartigsten Eindruck hinterließ das Damencorps, auf Akkuratesse, Eleganz, Anmut trainiert wie wenige Ensembles. Die Herren, die in Wien präsentiert wurden, konnten da jedenfalls nicht konkurrieren. Von wenigen Ausnahmen wie Wikulow abgesehen auch nicht die Solisten.

Viktor Fedotow leitete das Tonkünstlerorchester straff und sehr exakt. Stürmischer Jubel nach jedem Akt. Karlheinz Roschitz

„Raymonda“, das abendfüllende Ballett in drei Akten, das Petipa in enger Zusammenarbeit mit Alexari-der Glasunow schuf, gehört zu den klassisch-romantischen Standardwerken. Im Westen belächelt man zuweilen seine „Antiquiertheit“ und die nicht gerade mitreißende und originelle Musik. Aber in der Interpretation der Leningrader wird die Geschichte von der jungen Gräfin Raymonda, die, in das Bild des Ritters Jean de Brienne verliebt und auf dessen Rückkehr von einem Feldzug wartend, in ihrem Traum und später in ihrem Schloß von dem sarazenischen Ritter Abderachman bedrängt wird, zu einer Feerie, die auch durch die eher dürftige Ausstattung nicht beeinträchtigt wurde. Im Gegenteil: sie verhindert jede Ablenkung und gestattet die Konzentration auf die Leistungen der großartigen Solisten und des überaus disziplinierten, schwerelos tanzenden Corps — in dem auch hier durchaus die Damen dominieren. Diese aus Paris nach Rußland verpflanzte und dort zu traumhaft schöner Blüte gediehene Kunstform ist ebenso kalkuliert und artiflziell wie die Stadt, aus der das ehemalige Ballett des Marientheaters kommt: wie St. Petersburg, das heutige Leningrad. Es ist, wie wenn auf einen kräftigen einheimischen Stamm edle ausländische Reben aufgepfropft werden (beim Obst-und Weinbau nennt man das Okulieren). So wird diese esoterischaristokratische Kunst in Rußland durch immer neue Kräfte, die aus dem Boden und aus der Seele kommen, gespeist. Das bewahrt sie vor Erstarrung. Die technischen Voraussetzungen dieser vollendeten Tanzkunst sind die achtjährige Ausbildung, der die meisten Mitglieder des Kirow-Balletts unterworfen sind, sowie .der Einsatz der gesamten Truppe mindestens zweimal in der Woche. Virtuosität, Präzision und Anmut (die auch einige wenige männliche Tänzer zeigen) sind das Resultat dieser Züchtung und dieses Trainings. Nennen wir stellvertretend für viele Natalia Makarowa, Wladiien Semjonow, Xenisa Ter-Stepanowa, Galina Iwanowa und die bildschöne Olga Sabotkina.

Waren „Dornröschen“ und „Raymonda“ Demonstrationen eines vollkommenen Stils und jener unbedingten, anmutsvollen Disziplin, von der Strawinsky spricht, so zeigte das Kirow-Ballett mit seinem 3. Programm, was, neben der Brillanz, an Kraft und Leidenschaft in dieser Truppe und ihren Solisten steckt. „Leningrader Symphonie“ nach dem 1. Satz der berühmten Siebenten von Schostakowitsch schildert in drei Szenen („Friedliches Glück — Invasion und Requiem“) die Leiden und den heroischen Widerstand der Bevölkerung Leningrads im Jahr 1942. Die sehr eindrucksvolle, naheliegende patriotische Klischees und Übertreibungen meidende Choreographie schuf Igor Beiski, die modernen Kostüme und Dekorationen Michail Gordon. Eine Folge von Solo- und Gruppentänzen gaben Einblick in das reichhaltige Repertoire und seine brillante Beherrschung: „Die Bajadere“ (Choreographie von Petipa, Musik von Minkus), „Nußknacker“ (Wainonen — Tschai-kowsky), „Gajaneh“ (Anassimova — Chatschaturian), „Die Flamme von Paris“ (Wainonen — Assafjew), „Giselle“ (Petipa — Adam) und „Taras Bulba“ (Boris Fenster — Solowjoiü-Sedoj).

Die ebenso expressiven wie virtuosen Solisten waren Alla Sisowa und Oleg Sokolow, Gabriela Komlewa und Sergej Wikulow, Xenia Ter-Stepanowa und Wladiien Semjonow. Olga Sabotkina und Konstantin Rassadin, Ninella Kurgapkina und Alexander Pawlowski, Natala Makarowa und Anatoli Nisnewitsch sowie in der einzigen folkloristischen Nummer mit Showelementen („Taras Bulba“) die großartigen Springer und Säbeltänzer Tschernischew, Schtscherbakow, Kusnetzow, Pawlowski, Kapteiow und Naiditsch. Die Namen sind nicht nur in der UdSSR, sondern auch in westlichen Ballettkreisen bekannt und zählen zur Weltspitzenklasse. — Auch in den sieben Tänzen des 3. Abends waren die Dekorationen sparsam, fast dürftig, die Kostüme nie vorherrschend und den Gesamteindruck bestimmend. Im Mittelpunkt stand überall der einzelne Tänzer, seine Persönlichkeit und sein Können. Am Pult des sehr aufmerksam und ordentlich spielenden Tonkünstlerorchesters stand ein ausgezeichneter Mann: Viktor Schirokow, der seine Schützlinge auf der Bühne musikalisch vorbildlich betreute, ohne die Musik zu vergewaltigen. Das Wiener Publikum war begeistert. Unsere Tänzer, vor allem aber unsere Operndirektoren, mögen sowohl die Leistungen wie der Beifall, den die Russen erhielten, anspornen, auch unseren Balletten eine Chance zu geben.

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