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Turmmusik und Volksoratorium

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Das Musikerschicksal Anton von Weberns ist eines der ergreifendsten, die wir kennen. Igor Strawinsky hat darüber geschrieben: „Der 15. September 1945, Anton von Weberns Todestag, sollte ein Trauertag für jeden aufnahmefähigen Musiker sein. Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen Mißerfolg in einer tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte.“ — Aus der freien Atonalität im Gefolge Schönbergs, über aphoristische Melodik und Klangfarbenmelodie, über die Zwölfton- und Reihentechnik führt Weberns Weg zum extremsten Punkt zeitgenössischer Kontrapunktik, in eine „immer karger werdende Musiklandschaft, die zuletzt nur noch Einzeltöne kennt“, die aber, nach der Meinung zeitgenössischer Musiktheoretiker, zur Aufbruchstelle einer neuen Kunst, der elektronischen Musik, geworden ist. (Wir werden in unserer nächsten Musiksonderseite auf die letztere ausführlich zurückkommen). — Wir horten im Mozart-Saal des Konzert-hauseä zwei wichtige Werke aus Weberns letzter Schaffensphase, in der er wieder zu größeren Formen zurückkehrte. Aus der „S y m p h o n i e“ für vier Bläser, Streichquintett und Harfe op. 21 und der Kantate „Das Augenlicht“ auf einen Text Hildgard Jones spricht ein Künstler von extremem Subjektivismus und edler Geistigkeit, der sich in einer Sprache ausdrückt, deren Grammatik die strengte und konsequenteste sehn Zeit war. Damals war es eine Kunst nur für wenige, Musik im „elfenbeinernen Turm“. Sie ist es auch heute noch, obwohl während der letzten Monate Werke von Webern in Köln, Hamburg, Berlin, Paris, Los Angeles, New York und Cincinnati aufgeführt wurden. — Unter der Leitung von Michael G i e 1 e n musizierten ein ad hoc zusammengestelltes Kammerorchester und der Chor von Radio Wien. Ebenso erstaunlich, wie der gute Besuch dieses Konzertes, dessen Abschluß Schönbergs „Kammersymphonie“ für 15 Soloinstrumente von 1909 bildete, war der lebhafte Beifall, der auch der Leistung der Ausführenden dieser technisch überaus schwierigen Werke galt.

Daß Webern heute nicht nur Schüler, sondern bereits „Enkel“ hat, zeigte ein von der IG N M im Vertragssaal der Akademie veranstaltetes Kammerkonzert. Nach Klavierstücken und Liedern von Schönberg, Berg und Webern sang die Pariser Sopranistin Jeanne Hericard „3 Poemes de Rene Char“ von Jean-Lois Martmet und spielte der deutsche Pianist Alexander Kaul aphoristische Stücke von Pierre Boulez, Henri Pousseur, Luciano Berio und dem jungen Deutschen Diether de la Motte: reizvoll-eigenwillige Klanggebilde von unterschiedlichem Wert. Eine Reihe kleiner Lieder von Darius Milhaud und Strawinsky wirkte daneben recht handfest und unterhaltsam.

Am gleichen Abend dirigierte im Großen Saal des Konzerthauses Paul Scher man aus Kanada die Symphoniker und Weinhard Wink 1 er im Mozart-Saal das Pro-Arte-Orchester. Wir hörten unter Scherman eine Rossini-Ouvertüre, eine wenig differenzierte Aufführung von-Ray eis Suite

„Le Tombeau de Couperin“ und, mit Helen Schnabel als Solistin, die Erstaufführung der von Beethoven stammenden Bearbeitung seines Violinkonzertes (mit zwei Originalkadenzen) für Klavier und Orchester. Der Klavierpart klang genau so wie man sich diese in kurzer Zeit und auf Bestellung gemachte, aber zu Beethovens Lebzeiten wahrscheinlich nie aufgeführte Fassung vorgestellt hat. Eine mißglückte Ausgrabung. — Unter Meinhard Winkler spielte Giovanni Dell'Agnola den Klavierpart von Cesar Francks „Variations symphoniques“ (ohne besondere Kennzeichen). Zum Abschluß erklang Strawinskys zehnteilige Ballettsuite für Streicher „Apollon Musagete“, der man mehr von jenem kantablen Wohllaut gewünscht hätte, von dem Strawinsky in seinen Memoiren spricht.

Sein Oratorium „Judas Maccabäus“ schrieb Händel mit 62 Jahren, in einer höchst kritischen Zeit, als wieder einmal der Schuldturm drohte und er um jeden Preis einen Erfolg haben mußte. Zu diesem trug nicht nur die eingängige, lapidare Musik bei, sondern auch der Umstand, daß die Engländer in dem alttestamentarischen Text eine Glorifizierung jüngster geschichtlicher Ereignisse erblickten. Mag sein, daß in diesem als Drama konzipierten Werk, nach einem Wort Romain Rollands, „ein allzu gleichmäßiges Licht“ herrscht. Die vielen und großen Schönheiten der einzelnen Teile verfehlen auch heute ihre Wirkung nicht. Unter Hans Gillesbergers Leitung hörten wir im Großen Konzerthaussaal eine sehr geschlossene, eindrucksstarke Aufführung des Werkes durch die Wiener Singakademie, die Symphoniker und die Solisten Maria Stader, Christa Ludwig, Hermann Prey und Julius Patzak. Wir haben schon glänzendere und virtuosere Stimmen gehört, als den Sopran der Schweizerin Maria Stader, aber nur wenige, die so fürs Oratorienfach prädisponiert sind. — Nach dem Tod der unvergeßlichen Cathleen Ferrier erscheint uns der Alt Christa Ludwigs als der schönsttimbrierte. Ihre Technik ist ebenso entwickelt wie die des jungen Bassisten Hermann Prey, neben dem sich diesmal lulius Patzak schwer behaupten konnte. Der Chor, vorzüglich studiert, sicher und rein im Vortrag, hatte seine Höhepunkte im Eingangs- und Schlußstück des zweiten Akts. Nennen wir, stellvertretend für die übrigen solistisch Mitwirkenden, wenigstens noch Anton Heiller und Hermann Nordberg an den Cembali sowie Josef Nebois an der Orgel. Starker und lang anhaltender Beifall für alle Ausführenden.

Franz Schmidt hat sich im persönlichen Gespräch immer dagegen verwahrt, ein Gegner der modernen Musik zu sein und als eine Art „Schlußstein“ der Wiener Klassik angesehen zu werden. Nun, wer das II. Streichquartett in G hört, das zur Zeit komponiert wurde, als Schmidt an der Akademie Schönberg-Werke studierte („Pierrot lunaire“), dem wird die Verwahrung des Künstlers, der nun siebzehn Jahre tot ist, offenbar. Dieses Quartett, das an die Grenzen der Harmonik vorstößt, bildet einen Prüfstein, und welchen!, für jede Streichervereinigung. Hier kann man keine Kantilenen ausspinnen, hier kann kein einzelner hervortretend zeigen, was er kann; hier gilt die innigste Ensembleleistung, der das Einzclstudium gründlichst voranzugehen hat. Schon an diesem Werke erwies sich die Qualität des Wiener Konzerthausquartetts (die Herren Kamper, Titze, Weis und Kvaid.i) - Den Triumph vollendete die Vereinigung mit Schmidts Quintett für Klavier, Klarinette, Violine, Bratsche und Violoncello in B. Nur zwei Jahre älter (1932) als das vorerwähnte Werk, aber wieder von anderem Zug. (Alfred Prinz blies die Klarinette, Walter Kamper spielte den Klavierpart.) Die Interpretation entging einem häufig gemachten Fehler, nämlich dem Hinüberwechseln in eine allzu sentimentale Stimmung romantisierendem Genres. Das Gegenmittel angesichts solcher Versuchung heißt äußerlich Rhythmus, und dazu eine stetige innere Spannung, ein Bereitsein zum Lauf, zum Sprung: eine melodische Feder. Die Aufgabe ist nicht leicht. Vollends, wenn man über einen sinnenhaften, echten Wiener Streicherklang gebietet, wie die Interpreten. Aber: es gelang. Es gelang so, daß der stürmische Beifall des vollbesetzten Mozart-Saales sogar — ein seltenes Ereignis — die Wiederholung des Schlußsatzes mit seinem zigeunerhaften Melos erzwang. • ,

Am Abend darauf: Außerordentliches Chorkonzert im Musikverein, Schmidts zusammenhängend vertonte Apokalypse „Das Buch mit sieben Siegel n“. Die oft gewürdigte Riesenaufgabe für alle Nachschaffenden wurde diesmal womöglich noch schwerer. Dem Wunsche des Dirigenten Rudolf M o r a 11 entsprechend, wurde das abendfüllende Werk ohne Pause geboten. (Es sangen lulius Patzak, Walter Berry, Hilde Zadek, Gertrude Schretter, Erich Majkut, Otto Binder, der große Chor des Singvereins, es spielten die Wiener Symphoniker.) Soll man etwas hervorheben, dann war es diesmal der Chor, und hier wieder waren es die Soprane. Selten noch hat man das „Halleluiah“ so strahlend vernommen.

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