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Vertanzte Neurosen

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Seinen ersten Beitrag zu der nach 1945 wiedererstandenen deutschen Kultur lieferte das Ballett. Werner Egks „Abraxas“ hatte internationales Aufsehen gemacht, im Berliner Theater des Westens gab Jens Keith nach einer sehr modernen Partitur Wolfgang Fortners „Die weiße Rose“, unvergeßlich ist der großen Mary Wigman Choreographie des Strawinskyschen „Sacre“ — aber am meisten trug durch kontinuierliche Arbeit und immer neue Impulse Tatjana Gsovsky (mit 30 Choreographien) zur Renaissance des deutschen Balletts bei. Ihr Haus war zuerst die Städtische Oper, später die Deutsche Oper Berlin; ihre Meistertänzer hießen Gisela Deege und Gerd Reinholm.

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Seinen ersten Beitrag zu der nach 1945 wiedererstandenen deutschen Kultur lieferte das Ballett. Werner Egks „Abraxas“ hatte internationales Aufsehen gemacht, im Berliner Theater des Westens gab Jens Keith nach einer sehr modernen Partitur Wolfgang Fortners „Die weiße Rose“, unvergeßlich ist der großen Mary Wigman Choreographie des Strawinskyschen „Sacre“ — aber am meisten trug durch kontinuierliche Arbeit und immer neue Impulse Tatjana Gsovsky (mit 30 Choreographien) zur Renaissance des deutschen Balletts bei. Ihr Haus war zuerst die Städtische Oper, später die Deutsche Oper Berlin; ihre Meistertänzer hießen Gisela Deege und Gerd Reinholm.

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Die Erwartungen des Publikums nicht voll erfüllt hat das Ballett der Deutschen Oper Berlin, das in seinem ersten Programm im Theater an der Wien zwar mit ein paar hervorragenden tänzerischen Einzelleistungen aufwartete, im Gesamteindruck, in der Realisierung der schwierigen Choreographien, unausgeglichene Aufführungen präsentierte.

Wieviel Geschliffenheit raffinierter Formenkiultur, welch intimen Zauber kann etwa eine Wiedergabe von Frederick Ashtons „Seines de Ballet“ (Musik: Igor Strawinsky) ausstrahlen! Allerdings unter der Voraussetzung, daß man sie als glanzvolle artistische Revue, als Kette kunstvoller Arabesken, in höchster Akkuratesse des Corps, abschnurren läßt. Die Berliner haben das 1948 bei Sadler's Wells uraufgeführte Werk seit mehr als einem Jahr im Repertoire. Daß sich dennoch nicht mehr Präzision erarbeiten ließ, vor allem in den momentan lediglich beiläufig vorexerzierten Ensemblesätzen, verwunderte.

Durch vertanzte Neurosen und Komplexe das Publikum in Hochspannung versetzen, bemüht sich DOB-Chefchoreograph Kenneth MacMil-lan seit Jahren: Menschen, die sich in ihren Trieben verstricken, faszinieren ihn ebenso wie die Vereinsamten, Ausgestoßenen. Sein Ballett „The Invitation“, entstanden 1960 und seit 1966 in Berlin auf dem Spielplan — die expressiv geballte Musik stammt von Matyas Selber — und das zweite „an der Wien“ gezeigte Werk „Kain und Abel“, das erst im November vergangenen Jahres Premiere hatte (Musik: Andrzej Panufnik), dokumentieren diese Vorliebe für das Sich-selbst-Sezieren, das fast alle Gestalten MacMillans charakterisiert.

MacMillan, 1930 geboren, ausgebildet bei Sadler's Wells, dem Royal Ballet und seit 1966 der Deutschen Oper aufs engste verbunden, kennt die klassische Tanztradition dn allen Spielarten und Feinheiten schlechthin perfekt. Die Moderne ist nur fallweise in seine Arbeit eingebrochen, ohne sich jemals in den Vordergrund zu spielen. Fallweise Synthesen sind jedenfalls mit Fingerspitzengefühl für das jeweilige Sujet und die daraus resultierenden Bewegungsformen zustande gebracht: in der „Invitation“ die Kontrastgestaltung von überzeichneter, somit decouvrierender Gesellschafts-attitüde und hervorbrechenden Leidenschaften eines jungen Mädchens; im „Kadn“ die komplexe Situation, die aus den psychischerotischen Bindungen Adam-Eva-Kain-Abel (geführt von der Schlange) sich ergibt Nitfiolos Georgiadvs schuf für „Invitation“ eine dicht versponnene, üppig wuchernde Gartenszene mit viel Treibhausstimmunig; Barry Kay umrahmte im „Kain“ die Spielfläche mit vier riesigen schillernden Dreiecksblöcken, über denen das alles spiegelnde Auge Gottes unerbittlich lastet

Hervorragende tänzerische Leistungen bot vor allem die grazile, sanfte Lynn Seymowr, die all die Ängste der erwachenden Mädchens subtil pointiert. Rudolf Holz (verheirateter Mann) und Falco Kupuste (Cousin) tanzten die Liebhaber rasant. In „Kain und Abel“ verkörperten Frank Frey und Daniel Job die Titelpartien, zwei geschmeidige, feinnervige Tänzer, die MacMillans akrobatischen Anforderungen und oft brutal wirkendem Leibergwälze noch erstaunlich viel Eleganz leihen.

Der zweite Abend des Berliner Balletts brachte ebenfalls drei größere Kreationen: zwei sehr gegensätzliche von Kenneth MacMil-lian und eine von Antony Tudor. Das dreisätzige „Concerto“ auf Musik von Schostakowdtschs op. 102 vKlavierkonzert Nr. 2) zeigte ein wohltrainiertes Corps, dessen Damen durchschnittlich fünf bis zehn Zentimeter größer scheinen, als die des Wiener Staatsopemballetts und dessen Herren zum Teil einen mehr athletischen als tänzerischen Körperbau aufweisen. So mußte man bei den Numimern, in denen das Corps zum Einsatz kam, oft an Gymnastik und' LeichfeTOetik denken — nicht zuletzt 'auch infolge der strengen, fast geometrischen Choreographie MacMillans. Die Paare Didi Calil Falco Kapuste, Karin JahnkelKlaus Beelitz sowie die überlange Silvia Kesselheim hatten dankbare Sonderaufgaben.

„Las Hermanas“, ein Ballet d'aetion, und zwar mit einer recht bedrückenden Handlung, die ziemlich genau Lorcas ländlicher Frauentragödie „Bernarda Albas Haus“ folgt, hat Nicholas Georgiadis sehr suggestiv ausgestattet: als Interieur, aus dem es keinen Ausweg gibt Fünf erwachsene, aber unverheiratete Töchter, die von ihrer Mutter tyrannisch von der Außenwelt isoliert werden, der Einbruch eines Mannes in diesen hysterischen Kreis, der die ältere Schwester heiraten soll, aber die jüngste, lebenslustige vergewaltigt: das wird mit allen quälenden Details recht naturalistisch ausgespielt und erzeugt beim Zuschauer mehr Unbehagen als Teilnahme. Vor allem auch wegen des Regresses in den problematischen Ausdruckstanz, von dem wir uns seit bald 20 Jahren erlöst glaubten. Dieses Ballett wurde 1963 in Stuttgart uraufgeführt. MacMillan benützte dazu eine intensive, stimmungsmäßig dichte, aber stets noble Musik von Frank Martin: das Konzert für Cembalo und Kammerorchester (Solist: Paul Rechner). In den Solopartien zeichneten sich aus: Lynn Seymour eine überaus ausdrucksvolle und anmutige Tänzerin (als älteste Schwester), Karin Jahnke — die kapriziöseste und hübscheste der Truppe (jüngste Schwester) und Rudolf Holz, eine Figur mit Rudolf -Forster-Ausstrahlung, (als Verlobter und Verführer).

In Gala Performance schließlich, auf brillante Musik von Prokofieff (1. Satz des 3. Klavierkonzerts und „Symphonie classique“) bekräftigt Tudor die schon im „Urteil des Paris“ gezeigte Neigung und Fähigkeit zur Selbstpersdflage, nämlich der des Balletts und vor allem der Prima Ballerina. Diese wurde mit viel Witz und Selbstironie von Silvia Kesselheim dargestellt, aber auch die übrigen Sterne am ach so trügerischen Balletthimmel hatten in Didi Carli und Marion Cito sowie in ihren männlichen Partnern würdige Vertreter.

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