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Von Schubert bis Prokofieff

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Obwohl die Wiener Festwochen vor der Tür stehen, in deren Rahmen mehr als zwei Dutzend Konzerte stattfinden werden („Wiener Schule“ und acht Beethoven-Abende Friedrich Guldas) ist jetzt, in der ersten Maihälfte, keinerlei „Zäsur“ festzustellen. Aus der Fülle musikalischer Veranstaltungen haben wir die folgenden zur Besprechung ausgewählt:

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Obwohl die Wiener Festwochen vor der Tür stehen, in deren Rahmen mehr als zwei Dutzend Konzerte stattfinden werden („Wiener Schule“ und acht Beethoven-Abende Friedrich Guldas) ist jetzt, in der ersten Maihälfte, keinerlei „Zäsur“ festzustellen. Aus der Fülle musikalischer Veranstaltungen haben wir die folgenden zur Besprechung ausgewählt:

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Rudolf Serkin, als einer der ganz großen Pianisten stürmisch begrüßt, spielte Schuberts Sonaten A-Dur, D 664 und c-Moll, D 958 und nach der Pause die „33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli“ von Beethoven, op. 120. Dieses formal umfangreiche und technisch äußerst anspruchsvolle Programm erfuhr eine im Detail ebenso ziselierte als großräumig ausgespannte Wiedergalbe, die nur mit höchster Meisterschaft bezeichnet werden kann. Zwischen objektiver Gestaltung und persönlicher Durchdringung ergab sich nicht der geringste Bruch, die elegische Grundstimmung Schuberts mit ihren lyrischen Ausstrahlungen war genau so zwingend wie die oft grimmige humoreske Behandlung des Diabelli-Themas durch Beethoven, der es einen „Schusterfleck“ genannt hatte. Die technische Vollkommenheit Serkins, immer dem formalen Umriß und dem innerlichen Ausdruckswillen untergeordnet, wird kaum spürbar, weil sie nie um Ihrer selbst willen da ist. Der Beifall des Publikums wollte kein Ende nehmen.

Die OrchestervariaAionen über ein Thema von Paganini von Boris Bla-cher, op. 26, entstanden 1947, sind im Sinne seiner „ornamentalen Ökonomie“ bereits charakteristisch für sein späteres Schaffen. In der Aufführung durch die Wiener Symphoniker unter Heinrich Hollreiser kam die Duftigkeit und Durchsichtigkeit der Linien zu voller Entfaltung — und ebenso der''Wunsch, dieses Werk häufiger auf den Konzertprogrammen zu finden. Aus ganz anderem Stoff war das folgende Stück „An die Hoffnung“, für Gesang und Orchester von Max Reger, op. 124. In Form und Substanz der Tradition verhaftet, fließt dennoch der breite ruhige Strom des Orchesters zwischen neuen Ufern, darüber Christo Ludwigs wundervoll tröstende Altstimme wie ein dunkler Vogel mit gebreiteten Schwingen auf und nieder schwebt. Die große Schönheit der Interpretation verlangte spontan eine Wiederholung. — Als orchestrale Umdeutung seines 2. Streichquartetts entstand in der cis-Moll-Sym-phonie, op. 36 a von Hans Pfitzner eines seiner erfolgreichsten Werke. Als „Endzeit-Romantiker“ ist Pfitzner keineswegs ein Wiederholer, sondern prägt dieser Richtung einen neuen Zug auf, den der Resignation. Der Beifall des Publikums für den Dirigenten und die Ausführenden war herzlich und ergriffen.

Ein von der Mozartgemeinde ver-anstalteter Kammermusikabend brachte ausschließlich Werke zeitgenössischer Komponisten zu Gehör: ein Streichquartett und eine Sonatine für fünf Bläser von Kurt Schmidek, ein Streichtrio von Armin Kaufmann sowie Lieder von Hermann Ullrich und Richard Winter. Daß bei allen vier Komponisten Begabung und musischer Sinn vorhanden ist, der zur Gestaltung drängt, wurde unzweideutig unter Beweis gestellt, auch, obwohl es keinerlei neue Musik im Sinne der Atonalität war, vielmehr jedes Werk der Tradition enger oder loser verhaftet. Stärkste Wirkung erzielten Hermann Ullrichs „Drei Lieder aus der Jugendzeit“, op. 2, Armin Kaufmanns Streichtrio und vor allem Kurt Schmideks Bläsersonatine, die origineller und skuriller Einfälle eignet, in bewußtem Formgefühl aber ein geschlossenes Ganzes schafft. Um die Ausführung bemühten sich Helga Engdahl mit sehr schöner Sopranstimme, Franz Lukasowsky mit gepflegtem Tenor sowie die Kammermusifcuer-einigung des Österreichischen Rundfunks. Hans Graf und Erik Werba fungierten in verschiedener Art als Klavierbegleiter, wovon des letzteren leisere und dabei doch führende Weise überzeugender wirkte.

Das achte Konzert des Zyklus „Die große Symphonie“ dirigierte der 38jährige elegante Amerikaner Thomas Schippers. Den ersten Teil des Programms bildete die Missa in tempore belli, wegen der im Agnus Dei zur Schilderung des Schlachtenlärms verwendeten Pauken und Trompeten kurz „Paukenmesse“ genannt. Es ist die erste größere Arbeit, die Haydn nach reiner Rückkehr aus London im Dienste des Fürsten Nikolaus II. Esterhazy komponierte. Die Wiener Sängerknaben und der Chorus Viennensis (einstudiert von Hans Gillesberger), die Solisten Kurt Equiluz und Justino Diaz sowie die Wiener Symphoniker waren die Ausführenden des festlich-intimen Werkes. Prokofieffs Kantate für Mezzosopran, Chor und Orchester Op. 78 „Alexander Newski“ ist aus einer umfangreichen Partitur entstanden, die der Komponist 1939 für einen Film Eisensteins geschrieben hatte. Die Musik schildert kriegerisches Geschehen: Der junge Fürst von Nowgorod hat 1240 die Schweden an der Newa besiegt (daher sein Name Newski); zwei Jahre später vertreibt er auf dem Eis des Peipussees das Heer der Ritter des Schwertordens aus Rußland. Das Orchestervorspiel schildert die Leiden Rußlands unter dem mongolischen Joch, dann folgen Lieder der Russen und Sthlaent-gesänge „der katholischen Ritter“. Ursprünglich wollte Prokofieff Originalmusik aus dem 13. Jahrhundert verwenden, aber „dem heutigen Menschen erscheint sie kalt und gleichgültig. Daher mußte ich auf diese Musik verzichten...“ Wo Prokofieff wohl gesucht haben mag? — Das bombastische 40-Minuten-Werk ist leider nicht mehr als Kinomusik, trotz großen Chors (Singverein) und Riesenorchesters (Wiener Symphoniker). Eine Oase in der Tonwüste ist die einzige Arie für Frauenstimme, die von Valentina Lewko mit wunderschön timbriertem Mezzosopran und intensivem, aber keineswegs übersteigertem Ausdruck vorgetragen wurde. Das waren, kostbare fünf Minuten. Innerhalb eines so ausgedehnten Werkes mit so großem Aufwand entschieden zu wenig. (Audi der von H. Froschauer einstudierte Chor sang russisch).

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