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Wiener Künstler in der Mailänder Scala
Mailand, im Juli 1950
Keine andere Stadt Italiens außer Rom hat tieferen Grund, das Heilige Jahr durch würdige Aufführungen geistlicher Monumentalwerke zu feiern als Mailand: hier hat Ambrosius vor bald 1600 Jahren die Ordnung des Kirdiengesanges festgelegt, die zur Grundlage für die endgültige Regelung durch Gregor den Großen wurde, in Mailands Erde ruht Giuseppe Verdi, in der lombardisdicn Hauptstadt hat eines der ruhmreichsten Opernhäuser der Welt, das Teatro della Scala, auch seinen wohlbegründeten Ruf als Pflegestätte der Konzertliteratur. So widmete denn die Scala im Juni und Juli dieses Jahres zwölf Abende der Interpretation vöh acht sakralen Meisterkompositionen: J. S. Bachs Matthäus-Passion (Dirigent: Issay Dobrowen), der Hohen Messe“, Beethovens Missa solem-nis (beide Werke unter Karajan) sowie der drei Totenmessen von Mozart, Verdi und Brahms unter der Leitung Cantellis (der auch Monteverdis .Magniticat“ dirigierte), Arturo Toscaninis (mit Verdis ,Te Deum“) und de Sabatas.
Besonderes Interesse galt der Wiederkehr des heuer 83jährigen T o s c a n l n i und dem ersten Konzertgastspiel Herbert von Karajans mit seinem Solistenensemblc (Ferrier, Schwarzkopf, Höngen, Ludwig, Christoff, Singverein der Wiener „Musikfreunde“, Wiener Symphoniker, Forer und Heiller); selbstverständlich auch wegen des erstmaligen unmittelbaren Nebeneinanderwirkens der beiden stark profilierten Dirigentenpersönlichkeiten als Repräsentanten zweier Generationen, mehr aber noch der ihnen entsprechenden Werkwahl halber. So wurde das Verdi-Requien unter den Händen des Doyen mit erstklassigen Bel-canto-Stimmen .zum Ausdruck elementarer Wucht, drama-tisdier Größe (Dies Irae) und sublimer lyrischer Haltung (Sanctus); hier konnten der Chor und das Orchester der Scala, gleichsam in Opernnähe zu .Othello“, ihr Bestes geben. Die beinahe schon legendäre Gestalt Toscaninis am Dirigentenpult zog — es konnte gar nicht anders sein — in ihren Bann. Karajan meisterte die ihm anvertrauten Massen mit sanfter und eindrucksvoller Hand, indem er die Klangfülle in den Mantel der Intimität hüllte“ — schrieb II Popolo“ über die Bach-Aufführung: „er bekannte sich zu einer deutschen, weihevoll kirchlichen Interpretation“, so stand im „Milano sera“ über Beethovens „Mlssa“ zu lesen. Auch dem Wiener Gast, der die Interpretation der h-moll-Messe noch vom Bach-Fest im Ohr hatte, schien es, als wäre noch einheitlicher ausgewogen, mit verblüffender technischer Sicherheit, chorisch ohne den geringsten Makel in den Koloraturen und mit einer noch erleseneren Feinheit in den dynamischen Abstufungen musiziert worden. Es gelang dem Dirigenten ein Ensemblestil ohne jeglichen Bruch, ohne Dominanz irgendeiner Individualität unter den Ausführenden, wenn man auch dem Singverein seiner für italienische Begriffe geradezu unvorstellbaren Klängeinheit wegen den Lorbeer zuerkennen müßte: Den außerordentlichsten Klangkörper, den wir jemals gehört haben“—so nannte ihn der Musikkritiker im „Popolo“. •— Die Bach-Hingabe des Publikums mußte den oder-flächlichen Kenner des italienischen Kunstgeschmacks einigermaßen überraschen. Viel“ leicht aber findet sie Erklärung in der Sehnsucht aller Menschen nach Geborgenheit, aus der heraus der Thomaskantor jedes seiner größeren Werke mit den drei Buchstaben S. D. G. gefertigt hat.
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