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Beständigkeit der Oper

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Während des Kirchenmusikkongresses werden im „Theater an der Wien“ zwei zeitgenössische Opern aufgeführt.

Von allen Spielarten des musikalischen Theaters stellt die Oper die vollkommenste Verbindung des Dramatischen mit dem Musikalischen dar. In ihrer Idee liegt eine ausgewogene Proportion der dramatischen und musikalischen Grundelemente beschlossen, die die Vollkommenheit des Goldenen Schnittes zu erreichen vermag. Ob das einzelne Werk tatsächlich diese Vollkommenheit erreicht oder nicht, ist für die Definition der Gattung belanglos, doch müßte umgekehrt die Definition der Gattung eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung des einzelnen Werkes und auch der gesamten Entwicklung des musikalischen Theaters spielen. Je reiner in der Oper jedes der beiden Grundelemente dargestellt ist, je weniger in der neuen Verbindung von ihrem ihnen eigentümlichen Wesen verlorengeht, desto glänzender und faszinierender erscheint das Ergebnis.

Es ist vielleicht zweckmäßig, hier eine Bemerkung in bezug auf das Libretto einzufügen. Das Dramatische manifestiert sich in der Oper als dramaturgisches Bauprinzip und bedarf nicht der breiten literarischen Ausformung des Sprechdramas. Ein Libretto ist eine Dichtung, in der die dramatische Konzeption und die sprachliche Formulierung von der Vorstellung des Zusammenwirkens von dramatischer Handlung und Musik bestimmt wird. Die Libretti von Lorenzo da Ponte haben alle Vorzüge, welche der Salome von Wilde oder dem Woyzek von Büchner als Operntextbuch verständlicherweise fehlen müssen.

Mozarts Don Giovanni ist ein unübertreffliches Beispiel für die .Vollkommenheit einer Gattung, welche weder durch den mangelhaften Bau des Fidelio-Librettos noch durch die Deformation der Musik in den Opern der Spätrorpantik oder des Verismus widerlegt werden kann. Es ist erstaunlich, daß der Gattungsbegriff bei der Diskussion um das musikalische Theater häufig außer acht gelassen wurde, obgleich seit zwei Jahrzehnten, genauer gesagt, seit dem Fiasko der letzten spätromantischen Opern ununterbrochen darüber diskutiert wird. Geht man vom Wesen der Oper als Gattung und Form aus, dann erst ordnet sich die verwirrende Fülle der Erscheinungsformen und es wird deutlich, daß die Oper einen wahrhaft königlichen Rang innerhalb aller möglichen Formen des musikalischen Theaters einnimmt. Was gegen die Oper so häufig und so beharrlich eingewendet wurde, sie sei ein fossiles Üeberbleibsel längst verrotteter bürgerlicher Konventionen, die mit dem gründlichen Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft jede Existenzberechtigung verloren habe, trifft nicht den Typus, sondern nur seine spezielle Ausprägung innerhalb einer Epoche oder spezielle gedankliche Inhalte oder auch nur den architektonischen Stil vieler Opernhäuser, von denen in unserer so unbürgerlichen Zeit inzwischen allerdings genug abgetragen, verbrannt oder gesprengt wurden. Was gegen den illustrativen Musikbrei, den schillernden Tonsumpf der ins Bombastische aufgeblähten Opern der Spätromantik gesagt wird, das trifft den Jugendstil und die Spätromantik, aber nicht die Oper als Begriff. Die besondere Form der Oper, gegen welche die Opernstürmer der zwanziger Jahre angerannt sind, gibt es nicht mehr, sie ist nur noch fade Erinnerung und ferner, längst verwehter Klang. An ihre Stelle traten schon vor 20 Jahren Zwischenformen des musikalischen Theaters, welche jedoch die Oper nicht ersetzen konnten, da sie entweder der Musik, wie „Oedipus rex“ von Strawinsky, oder der Sprache, wie „Die Dreigroschenoper von Brecht, den Vorrang einräumten.

Gemeinsam ist beiden Versuchen, daß sie das Epische dem Dramatischen vorziehen, wenn auch auf ganz entgegengesetzte Art und Weise und zu entgegengesetzten Zwecken. Der „Oedipus“ schaltet bewußt die Spannung aus, die sich aus der unmittelbaren Teilnahme des Publikums an der Aktion ergibt. Die Erschütterung durch das Drama wird durch den artistischen Genuß an der Formulierung des Berichtes über das Drama ersetzt. Jede Möglichkeit einer Aktivierung des Publikums im Sinne einer moralischen oder politischen Idee ist schon durch die Verwendung der lateinischen Sprache mit voller Absicht ausgeschaltet. In der „Dreigroschenoper“ dagegen dient das Epische zwar ebenfalls der Distanzierung, bedeutet jedoch gleichzeitig ein Synonym für das Sozialkritische oder das Politische. Die Handlung dient der Demonstrierung einer Idee, für welche das Publikum über die Bahnen des Intellekts gewonnen werden soll. Das Drama ist durch eine Szenenfolge ersetzt, deren Anordnung der möglichst schlagkräftigen und wirkungsvollen Plakatierung der Grundidee entspricht. An Stelle der Typen und Charaktere treten Ideenträger, an Stelle der dramatischen Aktion tritt der Vortrag der Sentenz. Beide Formen, die des „Oedipus“ und die der „Dreigroschenoper“, sind in sich logisch und berechtigt. Sic haben aber beide nichts mit der Frage der Weiterentwicklung der Oper als Kunstform zu schaffen, da hei Strawinsky die theatralischen Mittel akzi- dentiell sind wie bei Brecht die musikalischen. So ist es logisch, daß die „Dreigroschenoper“ vor allem in den Schauspielhäusern gegeben wurde und der „Oedipus“ so häufig im Konzertsaal.

Im Gefolge der beiden von Brecht und Strawinsky aufgestellten Grundtypen entstand eine Reihe von musikalischen Bühnenwerken, die erkennbar entweder von dem einen oder von dem andern Vorbild abgeleitet waren oder den Versuch machten, die beiden ihrem Wesen nach unvereinbaren Typen zu vermischen. Weit weniger noch als die Vorbilder vermögen natürlich diese Derivate die Oper als Form zu ersetzen oder zu verdrängen. Ein episches, politisch gefärbtes Theater ohne politische oder moralische Idee ist ebenso unsinnig wie ein artistisches Musiktheater ohne essentielle Musik. Die differenzierteste Klangkulisse, die raffinierteste Klangregie, die Anwendung der schlagkräftigsten musikalischen Primitivformen und die stimmungförderndste klangliche Illustration genügen nicht, um den Anspruch auf den Rang eines musikalischen Kunstwerks zu begründen, ebensowenig wie der durch alle denkbaren Mittel der Wiedergabe gesteigerte theatralische Effekt — sei er schon vom Autor oder erst vom Regisseur eingesetzt — für sich genommen den Anspruch erheben kann, als dramatische Kunst gewertet zu werden. Umgekehrt: eine gute Oper erscheint nur schlecht oder veraltet, wenn es die dem Zeitgeschmack unterliegende szenische Wiedergabe ist. Die dramatische Form schließt die theatralische Wirkung nicht aus, der theatralische Effekt allein aber hat keine formbildende Kraft. Ebensowenig schließt die musikalische Form den klanglichen oder rhythmischen Effekt aus, der aber, auch wenn er organisiert ist, ebenfalls noch keine Kunstform darstellt. Anderseits läßt die Oper das Vergnügen am Artistischen ebenso zu, wie die Aktivierung des Publikums im politischen oder moralischen Sinn. Angefangen von „Figaros Hochzeit" und „Fidelio“, von der „Stummen von Portici“ und „Don Carlos“ gibt es bis in die Gegenwart hinein genügend Beispiele dafür.

Es ist selbstverständlich, daß jede Zeit ihre Ideen zum Ausdruck bringt und daß sich die Form immer wieder entsprechend den neuen Inhalten modifiziert. Die Definition der Oper als Gattung legt dem schöpferischen Geist keine Fesseln an und ist nur in bezug auf die postulierte Vollkommenheit der Verbindung des Dramatischen mit dem Musikalischen verpflichtend. Bei der Beschaffenheit der menschlichen Natur, welche immer wieder nach reinen Formtypen verlangt, ist anzunehmen, daß die Oper neue Triumphe feiern wird, sobald eine dramatische und musikalische Potenz Werke hervorbringt, welche den Kenner überzeugen und das Publikum mitreißen.

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