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Boris Godunow und Oedipus

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Bernhard Paumgartner hat einmal im Zusammenhang mit den Festspielen die Entwicklung eines Salzburger Stils als das erstrebenswerte Ziel aller Bemühungen um eine gültige und dauerhafte Gestalt des Festspielgedankens bezeichnet. Was er darunter verstand, wird Jedem klar sein, dem die „Raumseele“ dieser Stadt vertraut ist. Die Forderung, die auch in der Eröffnungsrede Gabriel Marcels anklang, scheint überholt, noch ehe sie erfüllt wurde. Im heurigen Programm, zumindest in den Spitzenveranstaltungen, in Boris Godunow und den Oedipus-Dramen des Sophokles, gibt es keine Möglichkeit, auf sie einzugehen. Der Zug ins Riesenhafte, sowohl auf dem Gebiet der Oper wie auf dem des Theaters, scheint fast eine bewußte Entsprechung zu gleichartigen Phänomenen unserer Zelt in anderen Bereichen der menschlichen Existenz zu sein. Mit solchen Manifestationen der Monumentalität in der Stückwahl wie in der Darbietung befinden sich die Salzburger Festspiele auf dem Weg, Weltfestspiele in Salzburg zu werden. Und das sind zweierlei Dinge, eines hat mit dem andern nichts zu tun.

Wie man sich zu dieser Entwicklung auch stellen mag, wird man gleichwohl einräumen müssen: einen in Dimension und Wirkung gewaltigeren Beginn als diesen „Boris Godunow“, inszeniert und geleitet von Herbert von Karajan, hat man in Salzburg noch nicht erlebt. Die welträumige Bühne des Neuen Festspielhauses ist in ihrer ganzen Breite dem dramatischen Geschehen geöffnet. In den großartigen Bühnenbildern Schneider-Siemssens wechseln Visionen von mystischer Glaubenstiefe mit byzantinischem Prunk, kultivierte Schloßveduten mit der tiefen Einsamkeit endloser Ebenen. Man schaut und schaut, und würde man nicht immer wieder durch die barbarische Ursprüngllch-keit, die entrückte Frömmigkeit und leidvolle Lyrik Mussorgskys in den Raum der Musik zurückgezwungen, könnte man das Hören vergessen. Karajan hat sich für die Fassung von Rimsky-Korsakow entschieden, die der nationalen Substanz impressionistische Klangreize abgewinnt; ich kenne keine andere, und so ist sie mir russisch genug. Daß Karajan die Wiener Philharmoniker und die Chöre (der Wiener Staatsoper, der Nationaloper Zagreb und der Kammeroper der Salzburger Festspiele) zu einer großartigen Leistung mitreißt, daß die Übereinstimmung zwischen Bühne und Orchester eine vollkommene ist, gehört bei diesem Dirigenten zu den Selbstverständlichkeiten. Auch seine Fähigkeiten als Spielleiter sind bekannt. Wie er die Massen bewegt, die Solisten führt, wie er die Möglichkeiten des Bühnenbildes mit den gestuften, schräg in den Bühnenraum stoßenden Rampen nützt, läßt an die Großmeister der Filmregie denken.

Nikolai Ghiaurovs Boris Godunow Ist gesanglich und schauspielerisch schwer zu überbieten. Herrscherlich in jedem Augenblick, selbst in der Erniedrigung des Wahnsinns, gezeichnet von Schuld und doch den Glanz einer Berufung in sich tragend, verkörpert er den Zaren im Geiste der Dichtung Puschkins. Sena Jurinac bezaubert als Marina durch die Kostbarkeit ihres Organs und den Adel ihrer Erscheinung; Eberhard Wächter als Schtschelkalow, Maslentkow als Einfältiger, Gerhard Stolze (Schuskij), Nikolai Gjuslev (Pimen), Anton Diakon (Warlaam) fügen sich gleichwertig in das glanzvolle Bild. Untadelig auch die Leistungen der Damen Radev (Amme), Ltloioa (Schenkwirtin), Dobrtjanoiua (Xehia) und Miljakovic (Zarewitsch). Usunow singt seinen falschen Dimitrlj richtig, aber farblos, ohne ganz zu überzeugen. Das Werk wird in russischer Sprache dargeboten, was der Aufführung den Charakter der Authentizität verleihen soll.

In der Felsenreitschule, dem zweiten überdimensionierten Festspielschauplatz, gehen als theatralischer Höhepunkt der Festspiele die Tragödien „König Oedipus“ und „Oedipus auf Kolonos“ des Sophokles, in der deutschen Sprachgestalt von Rudolf Bayr zu einer Einheit zusammengefaßt, über die Szene. Der österreichische Dichter, seit mehr als zwanzig Jahren um das Werk des großen griechischen Tragikers bemüht, erblickt seine Aufgabe darin, daß er „der poetischen Eigenart und dem poetischen Rang der Vorlage zu entsprechen trachtet“. Um darzulegen, welche Gedanken ihn bei seinem Unternehmen leiten, zitieren wir am besten weiter aus seinem Nachwort zur Buchausgabe des Werkes (Residenz Verlag): „Die Forderung, eine Übersetzung habe sich auszunehmen wie ein Werk der eigenen Sprache, ist absurd, denn wozu sich um Fremdes bemühen, soll die Bemühung in ihrem Endergebnis das Fremde tilgen.“ Und schließlich meint er unter Berufung auf Goethe: Wenn wir teilnehmen wollen an den Schöpfungen der griechischen Kunst, „müssen wir uns hellenisieren, Hellas wird nicht zu uns herüberkommen“. Das Auditorium folgte nach Vermögen dem Geheiß und Beispiel dei Übersetzers und empfing die Sophokledsche Dichtung in ihrer deutschen Gestalt, wie sie sich darbot: unverstellt, in ihren Fügungen griechischer Redeweise angenähert, ohne Pathos und oratorisches Ornament.

Als Oedipus erschütterte Erich Schellow durch den tiefen Ausdruck von Leidenskraft, aber auch von Würde, der ihm zu Gebote stand, die Größe des Menschenherzens noch in der furchbarsten Heimsuchung zu offenbaren. Seine machtvolle Stimme steigerte sich im Ausbruch zu elementarem Urschrei. Maria Wimmer (Jokaste) ist eine der großen Tragödinnen des deutschen Theaters. Heinrich Schweiger stand als Kreon — man möchte fast sagen, mit einer gewissen Skepsis — neben seiner Rolle. Der Seher Theiresias schien in der ungewöhnlichen eindringlichen Darstellung Leopold Rudolfs ein unheimlich wesenloses Schemen aus dem Schattenreich. Sonja Sutter und Erika Pluhar fanden im schwesterlichen Zweiklang die Melodie ehrfürchtiger Liebe.

Der hervorragend geschulte Chor klang wie die Vervielfachung einer einzigen Stimme. Gustav Rudolf Sellner, der Regisseur des tragischen Geschehens, setzte ihn als Element der Handlung in bald getragene, bald leidenschaftliche Bewegung. Die Choreuten machen jeden Schritt gemeinsam, dicht aneinandergedrängt, wodurch man an eine von unbewußtem Trieb gelenkte Herde erinnert wird. Fritz Wotrubas Bühnenbild, zwei aus kubischen Formen gewaltig aufgetürmte Gebilde von blendendem Weiß, läßt die Felswand dahinter fast verschwinden. Zwischen der bedrückenden Wucht dieser Riesenmale gibt es kein Entrinnen. Moira waltet.

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