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„Boulevard“ und „Moderne“ in Frankreich

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Daß beide: das rund ein Säkulum alte, spezifisch so verstandene „Boulevardstück“ towie insbesondere die theatralische „Moderne“, etwa zwischen den Kriegen (und namentlich dann teil 1940 bis 1945), in erster Linie aus Frankreich stammen, wird im allgemeinen als selbstverständlich angenommen. Beide Formen sehen auf einigermaßen klar unterscheidbare und doch gerade auf ihren Höhepunkten einander überschneidende Ahnenreihen zurück: die literarische „Moderne“ entstammt der Familie des reinen Wort- und Sinntheaters (gültiger Dichtung mit heldischen Individuen von Aischylos und Euripides zu den Humanisten), das dann in der französischen Klassik von Boileau und Corneille gipfelt und deren reglementierte Rationalität im pompös-symmetrischen, deklamatorischen Stil des vierzehnten Ludwig ebenso sich ausspricht wie (beisprelshalber) in den Gartenarchitekturen Lenotres: Strenge, das heißt „raison et clarte“, triumphieren absolutistisch 1s oberstes Gesetz.

Der „Boulevard“ hingegen ist — vielleicht neben der etwas zweifelhaften Mischform „Musical“ — einstweilen noch immer der letzte, vielgehätschelte, vielgeschmähte Deszendent der anderen, leichtlebigeren Hauptlinie einer Theaterentwicklung, die sich vom Rhythmus, der Musik und der Pantomime her determiniert, vom römischen Mimus und der commedia dell'arte mit ihren tragikomisch lächelnden Allüberalltypen, von Oper und Ballett, vom barocken Zauberstück bis hin zur Ausstattungsrevue jüngster Vergangenheit.

200 wechselvolle Jahre lang haben unter Molieres und Shakespeares Auspizien beide antagonistischen Ströme sei's mehr mit-, sei's mehr gegeneinander in Thaliens Diensten weitergewirkt. Der hervorragende Theatraliker Mari-vaux war an der frühboulevardesken „Mari-vaudage“ zumindest nur mit soviel Vorbehalt schuldig wie vor einem halben Jahrhundert der Philosoph Bergson am weitgehend unkontrollierbar gewordenen „BergsonisirVus“; Voltaires genialer Witz vermochte seine zynische Kälte immerhin noch zur literarisch formalen, traditionellen Dramaturgie umzuwandeln. Und es ist höchst fraglich, ob die Schlachten, die in Paris 1830 um Victor Hugos „Hernani“ entbrannten, einen endgültigen Sieg des individualistisch-romantischen Theaters über die Regeln der Klassizisten bedeutet haben. Denn die rapide positivistisch verharschte Lebensauffassung des eben emanzipierten Bürgertums neigte alsbald eher zum unpersönlich schildernden Realismus, dem ja Dumas und Sardou dann so eilfertig wie triumphal entgegenkamen. „Vereinigung“ jedoch, wenn auch auf einer anderen Stufe, zugleich aber auch Abschluß und Ende der Entwicklungslinien eben dessen, was man alte französische Theatertradition nennt, markiert schließlich das Vaudeville — sozusagen die „belle mere“ der Boulevardkomödie. Mit der „Dame aux Camelias“ von Dumas-fils, Labiches „Chapeau de Paille d'Italie“ und nicht zuletzt mit Offenbach-Meilhac-Halevys „Orphee aux Enfers“ als Kehraus, war das Theater der leichtsinnigen Bourgeoisie des Second Empire, im Cancanschritt wirbelnd, seinem eigenen Abgrund bedenklich nahegetanzt.

Die Versuche mit Dramatisierungen großer realistischer Romane, wie Daudets „Arlesienne“ oder Zolas „Therese Raquin“, erwiesen sich in den siebziger und achtziger Jahren ebensowenig als befriedigende Lösungen für einen Neuanfang im Zeichen des heraufsteigenden Naturalismus wie die düster pessimistischen Dramen Henri Becques („Les Corbeaux“. „La Parisienne“). Neben den staffierten Spiegelfechtereien Sardous beherrschte vielmehr als Vogel Strauß das funkelnd gekonnte „theatre artificiel“ des Eugene Scribe die Repertoires. Aber der 30. März 1887 schmetterte mit dem seither so vielstrapazierten Schlagwort von der „Avantgarde“ ein Signal heraus, das Epoche machen sollte: Antoine, ein theaterbesessener Pariser Gaswerksangestellter, gründete mit einer Truppe junger Idealisten das „Theatre libre“ und spielte in privaten (weil dadurch der Zensur nicht unterliegenden) Veranstaltungen seine als „lebenswahr“ erachteten „tranches de vie“: er suchte, wie zur gleichen Zeit auch Stanislawsky in Moskau und Reinhardt in Berlin, experimentell nach einem Stil, der in exakter Wiedergabe des Lebens doch dessen Hohlheit und Künstlichkeit bloßlegen sollte. Allein: allzu große „Echtheit“ auf dem Theater steigert bekanntermaßen lediglich dessen Unwahrscheinlichkeit. Wo Kunst Natur nachahmt, bekommt sie von ihr justament nur Flüchtiges und Relatives in den Griff.

Das erkannten bald der junge Paul Fort und Lugne-Poe, sie begründeten in ihrem „Theatre d'Art“ bzw. „Oeuvre“ symbolistisches Bohemetheater, wobei sie durchs Wort dem „tragischen Wunder des Lebens, dem Sinn des Geheimnisvollen“ auf die Spur zu kommen hofften. Maeterlincks bewundertes „Interieur“ war In-bild dieser Bestrebungen. Sahen sich Bild und Farbe bislang zur „ornamentalen Fiktion“ degradiert, so erbrachte doch alsbald die interessierte Mitarbeit von Malern, wie Gauguin, Bonnard, Redon u. a„ in von ihnen künstlerisch großzügig angedeuteter Atmosphäre auch visuell ganz neue Erlebnisse. Zur selben Zeit wie Georg Fuchs in München, Adolphe Appia in der Schweiz oder Gordon Craig in England lancierte daher Jacques Rouche mit seinem „Theatre des Arts“ (aus dem dann Copeau, Jouvet und Dullin hervorgingen) für Paris erstmalig Stilisierung, Rhythmus und Nuancen ins Spiel, und die aufsehenerregenden „Ballets russes“ von Diaghilew und Bakst verhalfen endgültig dem neuen, „style somptueux“ zum begeistert bejahten Durchbruch. Allerdings nicht, ohne unter Copeaus fanatischem Schlachtruf „Retheätralisez le theatre!“ sogleich die extrem entgegengesetzen Tendenzen ungewollt auf den Plan zu rufen. „Diszipliniertes Arbeiten mit Wissen und Methode“, so lautete das großangelegte Erziehungsprogramm in Copeaus nüchternem Theaterlaboratorium „Vieux Colombier“. Keine Meisterschaft ohne Aufrichtigkeit, und keine Erneuerung, die nicht doch irgendwie an v entweder kontinuierliche oder wiedergefundene Entwicklung anknüpft, und wär's durch das Mittel des Protestes! Schrieb Copeau: „Selbst eine Revolution hat ihre Wurzeln in den fernsten Geheimnissen einer nur für tot gehaltenen Tradition.“

Von solchem literarischem Niveau profitierte das Boulevardstück bis 1914: Wiewohl die Dramatik jener dramatischem Ausdruck eher abholden Zeit ganz generell vom Roman der Anatole France, Paul Bourget, Romain Rolland oder Andre Gide und der Lyrik etwa Claudels, Forts oder Valerys überschattet scheint, so hat doch ein Dreigestirn des Boulevards ebendessen Ruhm als einer geistvoll gestalteten Wunschtraumwelt für jeden Geschmack noch einmal nachgerade legendären Höhen zugeführt: ia der Nachfolge des alten, brillant anekdotischen Henry Lavedan waren dies Alfred Capus, der witzige Chroniqueur fröhlich bunter Girlanden von Bonmots und Situationen, Georges Courte-line, der, gutmütig-gallisch karikierend und gescheit pointierend, das kleinbürgerliche Gegenstück zu Capus' snobistischeren Salons lieferte (und der übrigens seit seinem unvergänglichen „Boubourouche“ unterdessen längst zum gehegten Klassiker der Comedie Francaise avanciert ist), sowie der volkstümlich-lebensnahe Tristan Bernard mit dem berühmten „Le petit Cafe“. Noch gibt sich der Umbruch allenthalben sehr gemäßigt liberal. „Das Theater“, sagt Thi-baudet, „hielt ebenso an der gewohnten Sittenkomödie fest wie die Gesellschaft an den Sitten der Komödie.“

Das veränderte jedoch der erste Weltkrieg jäh: die hysterische Vergnügungssucht einerseits und das durch fundamentale Erschütterungen depressiv gewandelte menschliche und soziale Bewußtsein der Frontgeneration anderseits brachte dort flachstes Amüsiertheater von oberflächlicher Geistreichelei hervor, von dem hier die ernste Dramatik auf ihrer Suche nach einem neuen, intimeren Verhältnis zum Leben selbst zwangsläufig stets weiter abrückte. Der junge J. J. Bernard brachte mit seiner „Martine“, Charles Vildrac mit seinem „Paquebot Tenacity“ und Paul Geraldy mit der zarten Melancholie seiner Welterfolge „Aimer“ und „Robert et Marianne“ gleichsam die Gefühle von Hunderttausenden zum Ausdruck, indem sie jene im Grunde untragischen Verwicklungen durch die Liebe gestalteten, die zwar alle Herzen bewegen, an denen indes niemand stirbt. Denys Amieis feinsinnige Beobachtungsgabe („Le

Voyageur““, „La Femirie en Fl'eurs“), Lenormands ursprüngliches dramatisches Temperament („Les Rates“) lassen, teils unter Benutzung von Techniken des neuen Mediums Film (wie des Flashback oder der Montage), starkes (tiefen-) psychologisches Konversationstheater entstehen, an dem der „gehobene“ Boulevard besonders durch die bekannten Stücke Marcel Achards (und seinen Starschauspieler Michel Simon) partizipiert; durch das grausam-nihilistische Werk Steve Paseurs ebenso wie den surrealistisch beeinflußten Armand Salacrou („Nuits de Colere“). Für alle gilt, ungeachtet ihrer Breitenerfolge, doch programmatisch mehr oder weniger Jarrys Diktum: „Verständliche Dinge zu erzählen, dient nur dazu, den Geist zu beschweren und das Gedächtnis zu verfälschen, während das Absurde den Geist übt und das Gedächtnis arbeiten macht.“ Die wörtlich genommene Losung, wie man sieht, von Beckett, Adamov, Audiberti und Cie., formuliert vor mehr als sechs Dezennien.

Im Anschluß an Capus verschreibt sich dagegen das konventionelle Boulevardtheater wieder dem Vaudeville: Caillavet und de FlersV neben ihrer einmaligen Satire auf die Academie Francaise „L'habit vert“, und besonders der produktive Könner Feydeau glänzen noch einmal mit einer ganzen, frivolen Scheinwelt von Grafen und Kokotten, von Finanzaristokraten in „cabinets particuliers“. Doch daneben sind die Überschneidungen zur „seriösen“ Literatur angesichts der allerorten überschäumenden Lust an gewagten Experimenten oft nicht mehr scharf zu vollziehen. Der naturalisierte Pole Alfred Savoir (eigentlich: Poznanski) triumphiert mit seinen respektlos-.schockieren-den „3 Comedies d'Avantgarde“. Jean Sarment wechselt nach den elegischen Prätentionen seiner „Pecheurs d'Hombre“ bald zum flacheren (und einträglicheren) Geschmack über; der folkloristisch-einfache Marseillais Marcel Pagnol („Fanny“, „Marius“, „Cesar“), eine Art Billinger des Midi, nimmt seit je eine Sonderstellung ein, welcher namentlich seit Raimus berühmter „Topaze “-Darstellung ein schier unverwüstlicher Erfolg beschieden scheint. Der poetisch-vollblütige Flame Fernand Crommelynck („Le Cocu Magnifique“, „Les Amants Puerils“) ist weit tragikomischer als der glattere — und daher erfolgreichere — Jacques Deval mit seiner von „Priere pour les Vivants“ bis „Tovaritch“ und „Mademoiselle“ außerordentlich reichhaltigen Skala. Von Alfred Jarrys „Ubu Roi“ (bereits 1896!), so etwas wie einer Vater-Imago aller Surrealisten, kommt sowohl ein so esoterisch schillernder Dichter wie Guilleaume Apollinaire („Les Mamelles de Tiresias“) und Jean Cocteau, der verwirrend Vielseitige, mit seinen allbekannten, auf hundert Hochzeiten zugleich tanzenden Stücken.

Die Heftigkeit des Schocks der Besetzung Paris' durch die Deutschen wurde 1940 in ihren Auswirkungen nicht sofort virulent. Aufführungen von Sacha Guitrys „Un soir quand on est seul“ und von Jean Gionos „Bout de la Route“ leiten eine anscheinend noch recht konventionelle Saison 1940/41 ein, unter deren Oberfläche jedoch der wirr sich formierende Widerstand hektisch um Selbstverständnis und Ausdruck ringt. Ein Jahr später akzentuieren gloriose, historisch gewordene Premieren die sich entladende Hochspannung: Giraudox' „Sodom et Gomorrhe“ transponiert den Weltuntergang auf die lichteste intellektuelle Höhe — die glanzvolle „Soulier-de-Satin“-Inszenierung der Comedie Francaise mit Marie Bell, Jean-Louis Barrault und Madeleine Renault ist eine in Paris noch heute unvergessene Gipfelleistung des Theaters, die vom Katholizismus her eine geballte Opposition wider die antichristliche Gewaltherrschaft der Okkupanten symbolisierte, während solche hochbrisanten Sensationen, wie Sartres „Mouches“ und Anouilhs „Antigone“. hinter ihren mythologischen Chiffren leidenschaftlichsten Widerstand und lodernde Empörung gegen die Gewalt predigten, was außer von der Zensur der Besatzer überall enthusiastisch genug verstanden wurde. Der enragier-teste Existentialismus aber brach sich erst nach der Befreiung von 1944 Bahn ... zugleich freilich mit dem allerseichtesten Amüsement 1945 ist das Theater auf der einen Seite geprägt von „Blutsauce und Helden, die Geld einbringen“, auf der anderen durch Gelegenheitsplatitüden „vom Öldruck zum kitschigen Reißer“ (Jean-Jacques Gautier), so daß die Leute zwischen „Victoire de Paris“ und „Un ami viendra ce soir“ oder Boulevardzerrbildern wie „Ma femme dans ton lit“, ja sogar „Ton derriere ä la fenetre“ die Wahl hatten. Doch folgt sehr bald der Anstieg: ab 1945/46 kündigt sich mit Clavels „Incendiaires“, Camus' „Caligula“, Giraudox' (inzwischen posthumer) „Folie de Chaillot“, mit Laportes „Federigo“ und Druons „Megaree“ die neue, mittlerweile so reich entfaltete literarische Blüte an.

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