Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Das Scheitern am Höchsten
Goethes Faust: seit hundert Jahren wissen nicht nur die Philosophen und Philologen, die Traumdeuter und Ästheten, die Weltanschauungsfabrikanten und Schulmeister, sondern auch die Theaterleute, daß hier dem Jahrhundert der Nachfahren eine große Aufgabe gestellt ist. Der ganze Faust, das erste .Gesamtkunstwerk“ nach dem Barock — diesem stärker verbunden und verpflichtet, als der dünne spiritualistische .Idealismus“ und .Klassizismus“ der ersten Epigonen ahnen wollte — dieser ganze Faust wurde „bühnentechnisch' nicht gemeistert in der Epoche, die den Aufstieg der Walhalla und Bayreuths sah. Wie stark doch, wie so oft, der Symbolgehalt der Tatsachen: Wagners rauschende, scheinbar Himmel und Erde vermählende Mirakelspiele .gelangen“, gelangen wie, wieder ein halbes Jahrhundert später, Max Reinhardts Zauberspiele — nicht aber gelang es, den ganzen Faust auf der Bühne zu bewältigen.
Mangel der Technik, der Beweglichkeit des .großen und kleinen Himmelslichtes?“ Wohl auch das — wieder ist aber das Versagen der äußeren Hilfsmittel Ausdruck für die Tatsache, daß das Gesamtwerk noch nicht von innen her bewältigt wird. Auch heute noch nicht — neunzig Jahre nach Devrients Aufruf, ein Vierteljahrhundert nach Dornach, nach Rudolf Steiners pansophistischen Experimenten, nach Richard Beer-Hofmanns kühnen Schneiderkünsten — er strich bekanntlich in der Burg den Faust auf das handfeste Spieldrama eines Abends zusammen.
Der neue Versuch Josef Gielens in der Burg, Faust II auf die Bühne zu bringen, ist demnach als durchaus zeitgemäß zu betrachten: die Innenräume, die Faust hier durchschreitet und deren farbiger Abglanz die Symbolbilder des .rweiten Teiles“ sind, können, heute bild-, bühnen- und darstellungsmäßig bewältigt werden: heute, nach Clau-dels „Seidenem Schuh“, nach den Antike-Gesichten Freuds, Anouilhs, McNeills, Coc-teau's... Faust II kann heute bereits „dargestellt“ werden, weil die seelischen und geistigen Erfahrungen des Jahrhunderts zwischen Carus, Bachofen und C. J. Jung, Weizsäcker und Teilhard du Chardin jene Sehschärfe, jene Bildschärfe, jene .Einstellung gestatten, di imstande ist, den erregend-gegenwartsnahen Kern herauszuarbeiten. Leider ist, trotz sichtlich-fleißigem Bemühen, diese .Inszenierung“ und .Bearbeitung“ nicht gelungen, einfach, weil das große Anliegen nicht von innen her bewältigt wurde. Faust durchschreitet hier, in der .klassischen Walpurgisnacht“, in all den Hexen-, Spuk- und Phantasmagorie-bildern nicht das unheimliche Binnenland des modernen Menschen, den Innenraum jenes Promethiden, der, ausgerüstet mit der Kraft aller irdischen (und einiger unterirdischen) Elemente soeben — 1949/50 — darangeht, sich diese Erde restlos zu unterwerfen — in Sachtechnik, Menschentechnik — als Seeleningenieur, Politführer, Masseninstrukteur. Nein, leider nein: dieser Faust ist nicht das erschreckend nahe große Vorbild des Menschen von heute, dessen innerste Absichten Goethe schaudernd vorerkannte — sein Streben, Leib und Seele, Gott und Geist und Welt zu „vermachten“, zu versklaven im Dienste ungeheuerlicher Kosmosherrschaftspläne. Dieser neue Faust unserer alten Burg ist nur ein Schauspieler, der durch seltsame fremde Revuebilder wandelt — durch Statisterien von .Geistern“, „Dämonen“, „Mächten“, die auch die Kunst Rosalia Chladeks nicht zu ergreifenden Sinnbildern unheimlicher Potenzen gestalten kann — einfach, weil die Anlage des Ganzen fehlt — die große, neue, seinsgerechte Konzeption, die das in Bild und Gestalt erstarrende Formenwerk dieses Faust II einschmilzt in das Erleben unserer Zeit. Auf Schritt und Tritt wird dieses Versagen innerer Bewältigung deutlich spürbar und sichtbar: immer noch wird hier der moderne Zuschneider von der Masse des Stoffes, des Materiellen erdrückt, überwältigt, so daß, unter anderem, nicht einmal mehr Zeit bleibt für den ganzen Wächtersang: wofür, als eine unglückliche Kompensation — eine Konzession an den Volkstheater-Katholizismus des „Veruntreuten Himmels“ — im Schlußteil breit und ungebührlich Faustens Himmelfahrt dargestellt wird: ein safrangelber Fleischberg wankt triumphierend zur Madonna hinauf, die in der Monstranz thront — der Unverschämte scheint ihr zuletzt noch die Hand zu küssen — keine Gnade des Vorhangsl — Diese ganze Schluß-zenerie — eine abwegige Imitation eines barocken Hochamts — mag in südamerikanischen Zirkussen Stürme der Begeisterung entfesseln, für einen mitteleuropäischen Katholizismus — zwischen Bernanos und der Le Fort, Guardini und Rahner — ist er heute untragbar.
Vermerken wir es nochmals: diese ausschweifende Darstellung von Faustens Himmelfahrt wächst „organisch“ aus dem Versagen, aus der Nichtbewältigung des Gesamtwerkes heraus: seine Urheber spürten wohl Instinktiv: die Leute, das Publikum will, nach all dem grauslichen Zeug von unverstandenen Geistern, G'spenstern, „G'sichtern“ endlich etwas sehen, was es versteht...
Und doch: selbst diese Aufführung hätte auf diesen Schluß verzichten können: denn, mitten in ihr blüht, als wahrer Höhepunkt, die Helenalegende auf, die durch die Kunst Lieselotte Schreiners den Schmelz dichter, reiner, erlöster Humanität erhält und die allein jenes Transparentwerden, jene Durchsichtigkeit des Stofflichen aufzeigt, um die die Aufführung sonst nicht ringt.
Rückblick auf das Ganze: gerade in ihrem Scheitern wirkt, diese repräsentative Aufführung unseres Staatstheaters, bei der an Schauspielern alles aufgeboten ist, was vorhanden, so ungemein repräsentativ für das Österreich von heute. Achtbare Durchschnittsarbeit im einzelnen, einige verdeckte Ansätze zu neuer Besinnung, gute Talente, manche Begabung, all das aber verliert sich, da große Linien, Charaktere, schöpferisch-eigenständige Entwürfe und Planungen fehlen. Zuletzt also: ein Fortwursteln; manchmal in ziemlicher, bisweilen in unziemlicher Art.
Recht besehen also: wir dürfen nicht mehr erwarten von der Burg — ihr Schaffen steht in einer echten Korrelation zur kulturellen Gesamtsituation unseres Landes; es kann nicht besser sein als diese... Ein Trost?
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!