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DER MENSCH WIRD GETESTET

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Dieser Tage erklärte ein bekannter Berliner Theaterdirektor: „Man fragt sich als Bühnenleiter ,Wer spielt was?“, und setzt darnach die Stücke an.“ Damit ist der Generalzustand des deutschsprachigen Theaters gekennzeichnet. So sehr es aber gewiß notwendig ist, das anderswo Erfolgreiche nachzuspielen, so sehr erweckt nur die initiative Leistung überregionale Aufmerksamkeit.

Doch betrachtet man die Aufführungen meist viel zu sehr als Einzelereignisse, während die Zusammenhänge, die das Zeitkennzeichnende erst so recht sichtbar machen, allzu unbeachtet bleiben. Nur selten werden sich die am Theater Beteiligten und Interessierten bewußt, worin sich die jeweilige Situation des Dramas und des Theaters entscheidend ausprägt. Diese Zusammenhänge zu erfassen ist aber um so wichtiger, als es das Theater allein ist, das die geistige Situation einer Zeit zentral und beinahe penetrant unmittelbar zu Bewußtsein zu bringen vermag. Erst in einem Gesamtpanorama wird wie auf einem Präsentierbrett die Entwicklung, die der Mensch, der innere Mensch, genommen hat, erkennbar.

Einen Gesamtüberblick über alles Entscheidende innerhalb einer kurzen Zeitspanne an einem einzigen Ort zu bieten, ist unmöglich. Doch ergeben sich immerhin Teilaspekte sowohl in Paris wie in Berlin. Im Rahmen des Pariser „Theaters der Nationen“, das in den Frühjahrsmonaten ausschließlich Gastspiele ausländischer Ensembles — bis zu dreißig an der Zahl — vorführt, sieht man immer wieder einzelne pionierartige Vorstöße im Bereich des Theaters (heuer war es die Inszenierung des „König Lear“ durch Peter Brook und die Aufführung „Oh what a lovely war“ durch das Londoner Workshop Theatre in der Regie von Joan Littlewood), die Berliner Festwochen dagegen, die nach einer Dauer von siebzehn Tagen vor kurzem ihr Ende fanden, bieten in Aufführungen westdeutscher Bühnen vor allem eine Fülle neuer Stücke, so daß hier noch besser als in Paris eine Zusammenschau des Neuen möglich ist. So gab es an den Sprechtheatern fünfundzwanzig Theaterabende mit Stücken, die in Wien noch nicht gespielt wurden.

Das Gesicht unserer Zeit ist aber nicht nur in neuen Bühnenwerken zu finden, sondern auch in den Neuinszenierungen alter Stücke. Was die Aufführung antiker Tragödien betrifft, muß man allerdings den Wiedergaben durch Gustav Rudolf Sellner am Burgtheater den Vorzug gegenüber der Inszenierung der Euripideischen „Medea“ durch Karl Heinz Stroux im Düsseldorfer Schauspielhaus geben, die in der Freien Volksbühne vorgeführt wurde. Sellner setzte — wenn auch nicht immer mit vollem Gelingen — neue Akzente,’ Stroux bot eine gut geglättete, fast konventionelle Aufführung. Der Chor blieb in seinen Bewegungen äußerst gemessen, erreichte nicht jene szenische Funktion wie am Burgtheater, schon gar nicht wie bei den heutigen Griechen. Maria Wimmer reichte als Medea bis ans Außermenschliche dieser Gestalt heran.

Da Berlin die Burgtheaterinszenierungen nicht kennt, erreichte Stroux einen vollen Erfolg. Überhaupt brachte der Beginn der Festwochen im Spiegel der Berliner Kritik ein geistiges Übergewicht der Bühnen aus dem übrigen Bundesgebiet. So bot Fritz Kortner in seiner breit ausladenden „Othello“-Inszenierung — Münchner Kammerspiele — furioses Theater, das der Bühne in der Zeit des Unterspielens wieder die Gewalt des Elementaren zurückgibt. Jene Aufführung, die am gesamten Welttheater von heute die meisten Akzente einer mutmaßlichen Zukunftsentwicklung, einer Entwicklung zum totalen Theater hin, aufwies, war die Barrault-Inszenierung des „Christophe Colomb“ von Claudel in Bordeaux 1953. Barrault, der kein Wort Deutsch spricht, wiederholte sie mit deutschen Schauspielern an den „Bühnen der Stadt Essen“. Der Erfolg stellte sich beim Gastspiel der Essener auch in Berlin ein.

Eine Wirkung dieses seinerzeitigen Vorstoßes war drei Tage vorher im Schloßpark-Theater, der Filialbühne des Schiller- Theaters, zu erkennen gewesen: Man hatte für die Aufführung von Anouilhs „Ball der Diebe“ verdienstvoll den bekannten Pantomimen Jacques Lecoq aus Paris geholt, um die Schauspieler zur Wiedergabe dieses „Balletts“ durch gesteigerte Beweglichkeit aus ihrer Starre zu lösen. Das gelang erstaunlich gut. An unseren Wiener Staatsbühnen hat man die Notwendigkeit einer weitergehenden Entfaltung des Schauspielers in diesem Sinn noch nicht erkannt. Den Versuch, aus einem mehr als sechzig Jahre alten Stück das heute noch Gegenwärtige scharf herauszustellen, unternahm Rolf Henniger in seiner Inszenierung von Wedekinds „Marquis von Keith“ im Schiller-Theater. Mit festem Griff schob er das Gestrige beiseite, ohne es völlig zu eliminieren. In kalter Rationalität erstand die Umwelt des Faiseurs Keith.

Als sehr reizvoll erwies sich die Gegenüberstellung eines älteren und eines neuen Stückes, das den gleichen Vorwurf behandelt. Hatte das Schiller-Theater schon in Paris sowohl mit Kleists „Amphitryon“ wie mit „Amphitryon 38“ von Giraudoux gastiert, so war nun bei den Festwochen im Schiller-Theater Hebbels „Judith“ und, erfolgreicher, im Schloßpark-Theater die „Judith“ von Giraudoux—Regie Axel Corti, Bühnenbilder Hubert Aratym — zu sehen. Ideen hat man in Berlin bei der Spielplangestaltung auch sonst. In der Zeit, da der Handlung für einen Theaterabend immer weniger Bedeutung zukommt, konnte ein literarischer Dialog, wie der „Geliebte Lügner“ von Kilty-Shaw, vor einigen Jahren im Renaissance-Theater herausgebracht, einen gewaltigen Erfolg erringen. Das wiederholte sich nun bei dem Dialog „Rameaus Neffe“ von Diderot im gleichen Theater vor allem deshalb, weil O. E. Hasse die Titelfigur verkörperte. Als einziges Stück eines Österreichers — sieht man von der Qualtinger- Lesung aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus ab — gelangte „Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer“ von Robert Musil im Forum-Theater unter der Regie von Fritz Peter Buch zur Aufführung.

Bei den neuen Stücken zeigt es sich, daß Historisches, mehr oder weniger realistisch dargeboten, kaum mehr greift. Das erwies sich bei dem Bilderbogen „Martin Luther“ von John Osborne, der in Piscators Freier Volksbühne nach dem „Stellvertreter“ aufgeführt wurde. Osborne hat nicht die dramatische Kraft, die gewaltige Gestalt des Reformators mehr als rudimentär darzustellen, wobei das Zurückführen geistiger Impulse auf eine körperliche Mißlichkeit — Stuhlverstopfung — nur läppiscji wirkt. Völlig fiel, Jas Schauspiel „Verrat in Rom“ in der Tribüne ab, dks der im Jahre I960 verstorbene Hans Rehfisch — seine Verdienste als Autor sind bekannt — hinterlassen hat. Es spielt im Jahre 1800 in der Tiberstadt und führt verschwörerische Umtriebe gegen die reaktionäre Herrschaft der Königin von Neapel, die da residiert, vor. Da das Stück, das möglicherweise noch in den dreißiger Jahren Erfolg gehabt hätte, im Stofflichen stecken bleibt, zerfällt der Realismus dieser Konfektionsmache in Moder. Das realistische Theater, erklärte Thornton Wilder, habe sich überlebt. Es bestätigt sich dies immer wieder.

Einen berechtigt starken Erfolg errang das Schauspiel „Die Geisel“ des trinkfreudigen Iren Brendan Behan in einer vorzüglichen Aufführung durch das Theater der Freien Hansestadt Bremen. Von Behan stammen allerdings nur lose Blätter, die erst durch die Bearbeitung von Joan Littlewood, der Leiterin des Workshop Theatre, zu einem Stück wurden. Es spielt in einem Lokal niederster Sorte, das den Leuten der unterirdischen Freiheitsarmee als Stützpunkt dient. Das Großartige an diesem Stück ist die Mischung des Politischen mit Privatestem, des Tragischen mit Witzigem, des Ordinären mit Zartem, großartig ist die Fülle an Traurigkeit, Ironie und Spott. All das widerspricht sich nicht, erweist sich als prallvolles Leben. Eine Nachwirkung von Brecht her ist vor allem in den zahlreichen Songs spürbar.

Unter den jüngeren französischen Dramatikern erregt Armand Gatti, Sohn eines Straßenkehrers italienischrussischer Herkunft, erhebliche Aufmerksamkeit. Dieser Vater wurde im Alter von sechsundvierzig Jahren als Anführer eines Streiks verwundet und starb. Gatti führt nun in seinem Stück „Das imaginäre Leben des Straßenkehrers Auguste G.“ den Sterbenden vor, wie er in seinen Fieberträumen sich selbst im Alter von neun, einundzwanzig und dreißig Jahren, ja auch noch als alten Mann sieht, der es nie wurde. Rasch wechselnd gleiten an ihm in phantasmagori- schem Ineinander wirklich Erlebtes und Imaginiertes vorbei. Die Technik des Irrationalen kommt von Strindbergs „Traumspiel“ her, das Auftreten der gleichen Figur in verschiedenen Lebensaltern nebeneinander kennen wir aus einem englischen Boulevardstück — „Endspurt“ —, Anregungen von Brecht sind verwertet, aber im Zueinander der Mittel findet eine Weiterentwicklung statt. Der politische Gehalt wirkt epigonisch, gelangt über die Geisteshaltung von 1920 nicht hinaus, formal dagegen spricht das Stück sehr an.

Das weitgehend handlungslose Theater von heute wurde von Beckett initiiert Es zeigt sich nunmehr überraschend entwicklungsfähig. In dem Stück „Ein Eremit wird entdeckt“ von James Saunders versuchen einige Theaterleute auf einer leeren Bühne den Lebenslauf eines Mannes improvisierend darzustellen, der sechzig Jahre lang in einer Hütte verborgen lebte und im Jahre 1942 starb. Am Beispiel dieser Kontaktlosigkeit Wird die Frage nach der Existenz gestellt. Entscheidend ist’ nun. daß dies spielerisch geschieht, das rudimentär Tiefsinnige, das viel bruchstückartig Gedankliche wird dauernd untermischt mit allerlei amüsantem Unfug. Die Frage selbst bleibt unbeantwortet. Insgesamt ist das eine Art „Godot“, ins Intellektuelle verlagert.

Und Becketts „Endspiel“ erlebt man wieder in dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?“ von Edward Albee, das, überaus erfolgreich am Broadway, nun in der Inszenierung von Boleslaw Barlog im Schloßpark-Theater zu einem „theatralischen Ereignis ersten Ranges“ wurde. Allerdings ist Albees Endspiel, wenn man es so nennen darf, vom Symbolischen ins Naturalistische gerückt. Zwei Paare — die Männer sind Collegeprofessoren — besaufen sich nächtens, Haß springt auf, setzt sich in demütigende Quälereien um, sexuelle Gier flackert. Das Endspiel wird zu einem in Alkohol und Dreck getauchten „Totentanz“. Die Faszination des Stückes geht davon aus, daß in diesem abstoßenden Warnbild ein Wahrheitsgehalt, ein faktischer zrustand, die Verkommenheit der heutigen, gottentfremdeten Gesellschaft, vivisekto- risch herausgestellt wird.

Das Stück „O Vater, armer Vater, Mutter hing dich in den Schrank, und ich bin ganz krank“ des Amerikaners Arthur L. Kopit, das in der Schiller-Theater-Werkstatt aufgeführt wurde, ist eine Burleske um eine extravagante, schöne Witwe, Mörderin ihres Mannes, die den Toten auf Reisen im Sarg mit sich führt, und um ihren idiotischen Sohn, der aus Angst ein kleines Luderchen tötet, als es ihn verführen will; der tote Vater fällt hierbei zwischen die beiden aus dem Schrank. Da Hintergründiges fehlt, wirkt dieses Stück nicht absurd, sondern, trotz des Einsatzes surrealistischer Mittel, nur abstrus. Das Abstruse wird zum makabren Spaß, bei dem sich das Publikum der Werkstatt ausgezeichnet unterhält.

Die Uraufführungen von Stücken deutscher Autoren brachten Mißerfolge. Hermann Moers hatte mit dem von der französischen Avantgarde angeregten Schauspiel „Zur Zeit der Distelblüte“ vor Jahren berechtigten Erfolg. Nun setzte er es sich in den Kopf, eine „Komödie für normales Publikum“, anders gesagt, ein Boulevardstück zu schreiben. Es heißt „Der Klinkenputzer“, wurde im Berliner Theater herausgebracht, wirkte aber nur läppisch. Auch Erwin Sylvanus — vordem erfolgreich mit „Korczak und die Kinder“ — erlitt einen Durchfall. Sein Stück „Am Rande der Wüste“, das die Vaganten-Bühne aufführte, spielt im heutigen Israel. Es wurde als „dilettantisch“ beurteilt. Uber das Antikriegsstück „Tulpen aus Holland“ von Hermann Roßbacher — Uraufführung im Kleinen Schauspielhaus am Bismarckplatz — las man, es sei „simpel“ und „brav“.

Dagegen wirkte das im Forum-Theater uraufgeführte moderne Mysterienspiel „Stille Nacht“ des 24jährigen Polen Ireneusz Iredynski als starke Talentprobe. In einem KZ wird knapp vor dem Herannahen der Befreier von den Häftlingen eine Szenenreihe um Herodes, um Josef und Maria aufgeführt, die der sadistische Lagerkommandant geschrieben hat. Wie sich das Biblische durch die Phantasie dieses Verbrechers wandelt, wie es zu den Morden am Schluß in Kontrast gesetzt ist, zeigt die Fähigkeit, die Bühne mit starken dramatischen Spannungen zu erfüllen.

Der Test auf die heutige Situation des Menschen, den einzelne der bei den Berliner Festwochen aufgeführten Sprechstücke ermöglichen, blieb nicht unergiebig.

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