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Der siebente Band des Großen Brockhaus

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Im hier anzuzeigenden Band sind für beides, das verdiente Lob und die, angesichts der großartigen Gesamtleistung nur ungern vorgebrachten Einwendungen, wiederum genügend Belege zu finden. Um nicht mit einem unbeabsichtigten Mißklang zu enden, beginnen wir mit dem kleinen, notwendigerweise unvollständigen Sündenregister, das sich auf die dem Rezensenten geläufigeren Stoffgebiete bezieht. Unter den Biographien vermissen wir: den französischen Naturforscher Lacepede, seine Landsleute Lakanal, Marschall Lannes, ferner den russischen Philosophen und Kritiker Lavrov, den österreichischen Mediziner Lauda, den französischen Marschall Leclerc, den bedeutenden belgischen Theologen Abbe Leclercq, dessen Staatsgenossen, den entzückenden Humoristen Lekeux, den spanischen Dichter Ricardo Leon, mehrere Mitglieder der polnischen Magnatenfamilie Leszcynski, aus der König Stanislaus stammte, den russischen Komponisten Ljadov, den Tierpsychologen Konrad Lorenz (dessen Vater im Brockhaus gewürdigt ist), den russischen Außenminister Fürsten Lobanov-Rostovskij, das polnische Geschlecht Lubo-mirski, den ungarischen Ministerpräsidenten Lukäcs (dessen Familie, nebenbei bemerkt, der im Lexikon nach Gebühr aufgenommene Literaturkritiker erzroter Couleur angehört), den bedeutenden, einst auch im deutschen Sprachgebiet bekannten polnischen Philosophen von internationalem Ruf, Win-centy Lutoslawski, den großen spanischen Poeten Maeztu, den liebenswürdigen belgischen Lyriker von Rang, Camille Melloy, den Biologen Felix Mainx, den verdienten österreichischen Unterrichtsminister und Humanisten Marchet, den Mathematiker Karl Mayrhofer, die gefeierte Burgtheaterschauspielerin Lotte Medelsky, den Komponisten Alois Melichar, den Staatsrechtslehrer Professor Merkl, den ungarischen Dichter erhabener Rhythmen, Läszlo Mecs — übrigens auch seine polnische Entsprechung, den hervorragendsten religiösen Lyriker der vorigen Generation, Jerzy Liebert, wie die bahnbrechenden polnischen Symbolisten zweier reizvoll voneinander abweichender Schattierungen, den Aelteren, Micinski, und den lungeren, LeSmian. Wir setzen unsere Fehlliste fort mit den französischen Heerführern Mangin, aus dem ersten Weltkrieg, und Marceau, dem jung gefallenen Helden der Revolutionskriege, mit dem Komponisten anmutiger Operetten Messager, dem k. u. k. Diplomaten, der zeitweilig in der europäischen Geschichte hinter den Kulissen eine erhebliche Rolle spielte, Grafen Mensdorff, dem Wiener Erzbischof Kardinal Migazzi, dem serbischen Außenminister und führenden Politiker Marinkovic und dem Komponisten Miaskovskij.

Um die betrüblichen Folgen des Beiseiteschiebens der, in den betreffenden Fällen allein maßgebenden, nichtdeutschen Forschung und Literatur zu zeigen, nennen wir etwa die Artikel über Lelewel — über dessen Bedeutung wir nichts erfahren, zu dem nur ein unwesentlicher deutscher Zeitschriftenaufsatz erwähnt wird und von dem weder das Halbdutzend polnischer Biographien noch die grundlegende vierbändige Korrespondenz („Listy emigracyjne“) verzeichnet sind —, über Lemberg — der Artikel geht sorgsam an allem Wesentlichen der bewegten Geschichte dieser Stadt vorbei, sagt nichts über die traurige Gegenwart und verzichtet auf Auswahl aus der ungeheuren, sie behandelnden polnischen, ukrainischen und russischen Literatur. Diese freiwilligen Scheu- (Abscheu-) klappen nach Osten stören sogar an sonst vortrefflichen Gesamtdarstellungen. Da lesen wir z. B. von Literaturpreisen, unter denen gar mancher unbeträchtliche vermerkt ist, doch weder die Stalin-Preise noch die einträglichen Stajtspreise der Volksdemokratien werden auch nur erwähnt. Wir erfahren eine Menge über Literaturzeitschriften, doch nicht einmal die „Literaturnaja Gazeta“ wird genannt. Derlei Totschweigen hat mit geistigem, so wohlberechtigtem Kampf gegen den Weltkommunismus nichts zu tun; es paßt besser in sowjetische Enzyklopädien, wo alle nicht ideologisch Zimmerreinen aus der Reihe der Lebendigen gestrichen sind und wo rechts oder links Abweichende plötzlich jedes Talent und jede Bedeutung verlieren. Wir glauben aber, daß es sich bei diesem Boykott des Oestlichen nicht um ungeschickten Gesinnungskrieg dreht, sondern weit eher um die beklagenswerte Nichtkenntnis östlicher Sprachen oder um jene eingangs in Erinnerung gerufene nationale Denkensart, die den „Karyatidenvölkern“ (und nicht etwa den weltanschaulichen Gegnern) Verachtung und also Nichtbeachtung weiht.

Ein Beispiel aus dem iberischen Kulturkreis bestätigt uns, daß bei der stiefmütterlichen Behandlung der nicht in deutscher oder wenigstens in englischer Sprache verfaßten Literatur wahrscheinlich unzulängliche Sachkunde dieses oder jenes Bearbeiters den Ausschlag gibt. Bei „Lateinamerikanischer Literatur“ suchen wir vergebens die meisten grundlegenden Werke zu diesem wichtigen Thema. Keine einzige aus einem Halbdutzend vorzüglicher Anthologien ist angeführt. Durch Abwesenheit glänzen die maßgebenden französischen Darstellungen von Aubrun und R. Bazin, die spanische, auch englisch vorliegende, von Henriquez-Ureüa, die neueste, 1950 veröffentlichte Fassung des älteren Handbuchs von L. A. Sänchez und desselben „Novela hispanoamericana“ von 1953. Bedauern wir noch schnell das herkömmlich ungerechte Urteil über Metternich, das Fehlen eines Hinweises auf das wichtige Tagebuch beim Artikel über den russischen Außenminister Lambsdorff, das einer Würdigung der politischen und geistesgeschichtlichen Rolle Merez-kovskijs, das Nichtverzeichnen des wesentlichen Werks von Skalnik über Lueger (s. v.) und die unbegreiflich laue Schilderung der verderblichen Persönlichkeit Ludendorffs. Worauf der Staatsanwalt, wie in Courtelines „Client serieux“, doch in umgekehrter Richtung, seinen Sitz verläßt und das Wort als überzeugter Verteidiger ergreift.

Zunächst . preisen wir eine Anzahl prächtig gelungener biographischer Artikel. Sie gelten La Fontaine, Lassalle, Leibniz, Leonardo, Lessing, Martin Luther, Machiavelli, Mallarme, Thomas Mann, Man-zoni, Maria Theresia. Masaryk, Maupassant, Kaiser Maximilian I., C. F. Meyer, Michelangelo, Mickie-wicz. Einige politische Themen sind in gehältige kleine Monographien eingefangen, so Labour Party, Liberalismus, Marxismus. Von geographischen Schlagworten sind hervorzuheben: Leipzig, London, Marokko und Mexiko. Vordringlich historischen Charakter tragen die Darstellungen der Landeshoheit, des Landsknechtswesens, des Lehens, des Limes, der Langobarden und . . . der Medizin, über deren Aufstieg wir einen ungemein fesselnden Kurs erhalten. Durchweg gut sind die Hauptartikel über Religionsgeschichte und Theologie, wobei freilich die taktvolle Zurückhaltung den agnostischen Standpunkt der Verfasser durchleuchten läßt, wie bei Lateinische Kirche, Maria, Messe, Messias, den Erörterungen über die drei Evangelien nach Lukas, Markus und Matthäus, die Leben-Jesu-Forschung. Weniger störend wird der positiv Gläubige derlei Grundhaltung bei den Themen Lamaismus, Liturgie, Manichäer und Methodismus verspüren. Vorzüglich sodann, auf philosophischem Terrain: Logos, Materialismus, Metaphysik. Ein Kabinettstück konziser Zusammenfassung haben wir am Artikel Mathematik. Ihm ähneln einige der bedeutsamsten Artikel aus andern naturwissenschaftlichen Sektoren, so die reich illustrierten über den Menschen, über Metalle, Magnetismus, das gesamte Luftfahrtwesen. Dabei streifen wir die Kriegswissenschaft; sie kommt auch im Schlagwort Maschinenwaffen ausgiebig und zeitnahe zur Geltung. Wohin sollen wir noch den Blick lenken? Etwa auf die schönen kunstgeschichtlichen und adäquat bebilderten Betrachtungen über Landschaft, Malerei, das Marienbild, die Medaille? Oder auf eine Reihe vorzüglicher Bemerkungen über Literatur? Da lesen wir von der Legende 'und vom Lied, von der Literaturkritik und von der Literaturwissenschaft im allgemeinen (die Achillesferse dieses Artikels haben wir schon aufgedeckt), von der Lyrik und von der Metrik, schließlich mit besonderem Vergnügen vom Märchen. Die Nationalökonomie kommt nicht zu kurz, dies bekräftigen uns die Darlegungen über Lastenausgleich, Lohn, Miete. Wenn wir dann die Tafeln durchblättern und uns an den mustergültigen Reproduktionen erlesener Kunstwerke — Landschaftsmalerei, Marienbild —, an den meisterhaft ausgewählten Aufnahmen aus London, an den Märchenillustrationen ergötzen, dann empfänden wir schier Reue, am Großen Brockhaus überhaupt Kritik geübt zu haben, wäre nicht aufrichtige Besprechung eines grandiosen und wohlgeratenen Gesamtwerks eine bessere Huldigung als das Nachplappern auch des dithyrambischsten „Waschzettels“

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