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Die italienische Literatur der Gegenwart

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Eines der hervorstechendsten Merkmale der italienischen Literatur ist, vor allem vom Ausland her gesehen, ihre gebildete und höfische Überlieferung, ihre durchaus literarische und aristokratische Natur, mit gelegentlichen Zugeständnissen an den Volksgeschmack und an Themen von- allgemeinerem sozialen Interesse. Dieser aristokratische Charakter zeigt sich vor allem in der geringen Bedeutung — wenn nicht geradezu im völligen Fehlen, wie sogar behauptet wurde — zweier Literaturgattungen (hier als Ausdrucksmittel verstanden, nachdem die ästhetische Kritik Croces die eigentliche Bedeutung des Begriffes „Literaturgattung“ ausgehöhlt hat): des Romans und dea Schauspiels.

Tatsächlich hat der italienische Roman, in der Heimat wenig gepflegt und auswärts fast völlig übersehen (was zum Teil selbst von Manzonis Meisterwerk „I promessi sposi“ gilt), niemals eine dauerhafte Anerkennung im Ausland finden können. Beim Theater aber tritt der gebildete und, literarische Charakter noch deutlicher hervor: die Komödien Ariosts, Machiavellis, Are-tinos, die Tragödien Alfieris und Manzonis werden im Spielplan der italienischen Theater grundsätzlich und beharrlich übersehen, und der einzige klassische Bühnenautor Italiens, dem bis auf den heutigen Tag die Ehre gelegentlicher Aufführung, und zwar vornehmlich durch Dialektbühnen zuteil wird, ist Goldoni. Ebenso auf der Grundlage des Dialekttheaters, das heißt also mehr auf der Darstellung der Probleme und Ansichten einer Provinz als jener der gesamten italienischen Gesellschaft, beruht die einzige Art eines wahrhaft künstlerischen Theaters der Gegenwart: die Werke, die von dem Neapolitaner Edoardo D e F i 1 i p p o geschrieben, inszeniert und dargestellt werden. Hier ist vor allem „Questi Fantasmi“ („Diese Gespenster“) zu nennen, das auch in Frankreich von dem unvergeßlichen Raimu dargestellt wurde, sowie „Filomena Marturano“. Wenn aber das Schauspiel, mit der einzigen Ausnahme De Filippos (die Wertschätzung Pirandellos hat in Italien in den letzten Jahren stark abgenommen), keine Pflege findet, so scheint hingegen der Roman zur Zeit das Interesse der bedeutenderen und besseren italienischen Schriftsteller in Anspruch zu nehmen.

Der italienische Romanschriftsteller, der mit der größten Zustimmung des Publikums rechnen kann, und der zugleich am ursprünglichsten den italienischen Roman in der von Manzoni und Nievo hergeleiteten Tradition verkörpert, ist Riccardo Bacchelli, der den größten Erfolg der letzten Jahre mit dem dreiteiligen historischen Roman .,11 Mulino del Po“ („Die Mühle am Po“) errang. Auf Grund eingehender und genauer historischer Forschung wird h:er ein breit angelegtes dichterisches Bild der italienischen Gesellschaft im Zeitalter des Risorgimento entworfen. Der Roman ist die Frucht einer mehr als zwanzigjährigen Vorbereitung, auf deren Weg auch andere Versuche des historischen Romans liegen, darunter am beachtenswertesten „Ii Diavolo al Pontelungo“ („Der Teufel von Pontelungo“), ein Roman von den Anfängen des Sozialismus und dem Aufenthalt Michael Bakunins in Italien.

Zugleich mit Bacchelli sind Aldo P a 1 a z-z e s c h i und Alberto M o r a v i a zu nennen. Der erstere erlebte seinen größten Erfolg mit dem Roman „Le sorelle Materassi“ („Die Schwestern Materassi“), der von der liebe zweier ältlicher Florentiner Schwestern für ihren jungen Neffen erzählt. Die Schärfe der psychologischen Analyse und die gediegene Sicherheit des Aufbaus sowie die kluge Dosierung der dramatischen Effekte, machen aus den „Schwestern Materassi“ das Meisterwerk jener in Italien weitverbreiteten Art von Literatur, die das pro-vienzielle Milieu liebt. Ein stärkeres moralisches Interesse an der oft grausamen und gewalttätigen Darstellung der abseitigen und verborgenen Hintergründe der bürgerlichen Gesellschaft zeigt Alberto Moravia, der mit aditzehn Jahren mit einem von der faschistischen Polizei beschlagnahmten Roman „Gli Indifferenti“ („Die Gleichgültigen“) begann (1932). Eine lebhafte dichterische Begabung offenbarte sich in dem folgenden Novellenband „La bella vita“ („Das schöne Leben“), der ein starkes eigenes, von Nachahmungen und fremden Einflüssen freies Talent erkennen ließ. Auf diesen Band und den wenig glücklichen Versuch eines Romans „Le «mbizioni sbagliate“ („Verfehlter Ehrgeiz“) ließ Moravia einen Essayband „I sogni del p'gro“ („Die Träume eines Faulpelz“) und einen abenteuerlichen Polizeiroman „La Masdierata“ („Die Maskerade“) folgen, der, in Wirklichkeit eine bissige Satire auf Faschismus und Diktatur, von der faschistischen Polizei nicht als solche erkannt und daher frei verbreitet wurde, sowie ein; lange Erzählung „L'Epidemia“, eine Satire ähnlicher Art. Nach diesen beiden Verbuchen, sich der eigentlichen künstlerischen Aufgabe zu entziehen, um sich in einem moralischen Protest gegen Faschismus und Diktatur einzureihen, ist Moravia kürzlich zu einer von Tendenz und Konstruktion freieren und einfadjeren Art der Erzählung zurüde-gekehrt mit zwei geglückten Werken „Ago-stino“ und „La Romana“.

Die anderen zeitgenössischen Schriftsteller Italiens zeigen eine stärkere Anteilnahme an den gegenwärtigen Strömungen in der europäischen und amerikanischen Literatur als diese drei, die eine allerdings erneuerte und. durch die vertiefte Kenntnis der lyrischen Innenwelt aufgefrischte italienische Tradition verkörpern, jene Überlieferung, die von Bocaccio über Manzoni bis Verga führt.

So kann man Bacchelli, Palazzeschi und Moravia mehr als Wegbereiter denn als Epigonen bezeichnen, wenn man auch feststellen muß, daß sie als Wegbereiter, zumindest im Augenblick, keine Nachfolge in der He'mat finden. Doch schmälert dies nicht die Bedeutung ihrer Schlüsselstellung in der zeitgenössischen italienischen Literatur, die in ihrem wachsenden Interesse für die Probleme des Romans nicht an ihrem Werk wird vorbeigehen können — auch wenn sie zur Zeit offenbar noch von anderen Wunschbildern angezogen wird.

Von den ausländischen Autoren üben natürlich die Schutzpatrone des modernen Romans, Proust. Kafka und loyce, auch in Italien den stärksten E:nfluß aus, obwohl jeder italienische Autor, der sich ihrer Führung anvertraut, im Grunde erst seine eigene innere und sittliche Welt an die ihre anpassen muß. Unter diesen Schriftstellern ist einer der begabtesten zweifellos Carlo Emilio G a d d a, der die experimentierende Prosa und die philologisdien Bestrebungen von Joyce (vor allem in „Finegans Wake“) zum Vorbild für seine Darstellung nimmt, wenn er die Atmosphäre von Mailand („L'Adal-gisa“) und Rom („Quer Pasticciaccio brutto de Via Merulana“) einzufangen sucht. Das letztere Werk veröffentlicht zur Zeit eine der bedeutenderen italienischen Literaturzeitschriften, die von A. Bonsanti geleitete „Letteratura“, die vor und während der Kriegszeit ein Bollwerk der ultramodernen literarischen Bewegung des „Erme-tismo“ war. Elio Vittorini mit „Cover-sazione in Sicilia“ („Gespräch in Sizilien“) und Cesare Pavese mit „Paesi Tuoi“ („Deine Heimat“) versuchen mit starkem Publikumserfolg die Welt der Provinz (Siziliens, Piemonts) darzustellen, im Stile jener amerikanischen Schriftsteller wie Saroyan, Cain, Caldwell — die sie auch als erste ins Italienische übersetzt haben. Von dem ge-schidtten und überraschenden, im Grunde doch unfruchtbaren Spiel der dichten Analyse von Proust läßt sich Frau M a n z i n i berauschen in ihrem Roman „Lettere all'editore“ („Briefe an den Herausgeber“) sowie in den beiden Novellenbänden „Rive Remote“ („Entlegene Ufer“) und „Forte come un leone“ („Stark wie ein Löwe“). Ihr Stil erinnert an die psychologischen Sehnsüchte von Virginia Woolf — als deren italienische Reinkarnation Frau Manzini offensichtlich erscheinen möchte. Das äußerliche Gewand des Romans 'tragen auch die Werke von zweien der bemerkenswertesten modernen Schriftsteller, von P i o v e n e und A 1 v a r o, die jedoch mehr eine Tendenz und Fähigkeit zur Darlegung der moralischen und sozialen Zeitprobleme, als eine dichterische Berufung verraten, wenngleich ein Streben in dieser Richtung bei Alvaro zu erkennen ist, der bereits einen lebhaften Erfolg mit einer frischen Sammlung calabresischer Landschaften — „Gente in Aspromonte“ („Leute in Aspromonte“) — erzielen konnte.

Die Bemühungen der jüngeren Schriftsteller um den Roman sind in dem freien Fluß der Erzählung noch etwas behindert durch eine Art fortdauernder Abhängigkeit von dem Werk der unmittelbar vorhergehenden Generation, das sich vor allem in der Form des Essays kristallisiert hat. Dieser von einer Gruppe um die Zeitschrift „La Ronda“ getragenen Bewegung (Cechi, Baldini, Barilli, Cardarelli, audi Bacchelli nahm aktiven Anteil) waren die Probleme des Stils sowie der Gediegenheit und organischen Gliederung der Seite ein besonderes Anliegen. Sie scheint nunmehr ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt zu haben — auch wenn jenen Schriftstellern in nicht immer sachlicher Kritik aus dem Lager der Linken vorgeworfen wird, sie hätten durch ihre Art schriftstellerischer „Kalligraphie“ die faschistische Bewegung beeinflußt und ideell unterstützt.

In der Lyrik zeigt sich seit Kriegsende keine neue Entwicklung: Giuseppe U n g a-r e 11 i, Eugenio Montale und Umberto S a b a sind weiterhin die drei führenden zeitgenössischen Dichter Italiens. Von erste-rem ist in den letzten Jahren nur eine Übersetzung und Auswahl der Sonette Shakespeares erschienen, die, wenn sie auch bei den Verehrern der Lyrik Ungarettis den erwarteten starken Erfolg hatte, doch bei den wissenschaftlichen Betreuern der englischen Literatur keinen so einstimmigen Beifall fand. Umberto Sabe, der nach einigen Jahren fast völligen Schweigens wieder zur Mitarbeit an den literarischen Zeitschriften zurückgekehrt ist, hat nun zum erstenmal in einem Bande sein dichterisches Werk gesammelt. Die Gruppe der „poeti ermetici“ (Luzi, Gatto, Sinisgalli, De Libero usw.) hält im Augenblick inne, um in Ausgaben, die den stillschweigenden Anspruch erheben „kritisch“ zu sein, die Schöpfungen der letzten Jahre neu herauszugeben.

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