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Die Rolle der Schweiz

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Der Schweizer ist von Haus aus mißtrauisch gegen das Geniale; denn Genialität bedeutet Wagnis des Geistes in Grenzbereichen des Dämonischen, bedeutet Entfernung von Maß und sicherer Ordnung. Diese Einstellung ist einer der Gründe dafür, warum die Schweiz über ein so wohlfunktionierendes Staats- und Gemeindewesen verfügt. Sie erklärt aber auch, warum jahrhundertelang von der Schweiz fast keine Wirkungen auf das übrige deutschsprachige Theater ausgingen. Sehr lebendig war in der Eidgenossenschaft stets die Tradition des Volkstheaters. Von den bekannten Freilichtaufführungen des Calderonschen „Großen Welttheaters” in Einsiedeln über die Altdorfer „TelP’-Spiele bis zu den Winzerfestspielen am Genfer See bot das Schweizer Theater das Bild einer kraftvollen und volksnahen Heimatkunst, bei welcher das Laienspiel noch eine große Rolle spielt. Die Bühnen der Berufsschauspieler aber zählten lange Zeit nur zur deutschsprachigen Theaterprovinz.

Ueberblickt man aber einmal heute die Tabellen der Uraufführungen und deutschsprachigen Erstaufführungen bedeutender Dramen und Opern, so finden wir überraschend oft als Schauplatz vermerkt: „Schauspielhaus Zürich”, „Stadttheater Basel”, „Stadttheater Zürich” (Oper) usw. Von Bernanos’ „Begnadeter Angst” bis zu Thornton Wilders „Alkestiade” und von Strawinskys „The Rake’s Progress” bis zu Arnold Schönbergs „Moses und Aarpn” . erlebten zahlreiche Werke heute nicht mehr in Berlin, Wien oder München, sondern in der Schweiz ihre deutschsprachige oder gar überhaupt ihre erste Premiere.

Die Gründe für die wachsende Bedeutung der Schweiz im deutschsprachigen Theater? Durch die Machtergreifung Hitlers in Deutschland und die spätere Annexion Oesterreichs wurde dem schweizerischen Theater über Nacht eine einzigartige Rolle zugespielt. Viele Schauspieler emigrierten damals in die Schweiz und fanden hier noch Bretter, die unabhängig von der Propagandamaschine des Dritten Reiches waren. Oskar Wälterlin war es vor allem, der damals im Zürcher Schauspielhaus ein Ensemble von Emigranten und Schweizern sammelte, mit dem er als einzige namhafte deutschsprachige Bühne alle diejenigen Werke aufführte, die damals in Deutschland verboten waren. Theater war in jenen Jahren einmal nicht nur ästhetische Darbietung, Theater spielen hieß für die Darsteller im „Pfauen”, dem freien Geist noch eine Gasse offen zu halten, die allerorten bedroht war. Man spielte die Werke Brechts, Bruckners, Zuck- mayers, Georg Kaisers; man brachte erstmals in deutscher Sprache die letzten Werke von Claudel, Giraudoux, Steinbeck, Munk, Lorca. Ja, auch nach dem Kriege gingen.die Werke einer jüngeren Generation zum großen Teil erst in der Schweiz über die Bretter, ehe sie in Deutschland und Oesterreich nachgespielt wurden. Arthur Miller gelangte über Bern. Tennessee Williams über Basel, Cocteau über Zürich und Basel, Honeggers Werke nach Claudel-Texten über Zürich, O’Casey über Zürich und Basel usw. ins deutsche Theater, bis schließlich auch in Deutschland und Oesterreich verschiedene Städte wieder ein profiliertes eigenes Theatergesicht erhielten.

Man fürchtete nun in jenen Jahren, als sich in den kriegsbetroffenen freien Ländern erste wirtschaftliche Besserung ankündigte, daß man alle Künstler, die mehr als ein Jahrzehnt Asyl und Gastfreundschaft in der Eidgenossenschaft gefunden hatten, rasch wieder verlieren würde. Um so mehr noch, als die Schweizer Bühnen trotz des allgemeinen Wohlstandes im Lande keineswegs immer die gleichen Subventionen von Staat und Stadt erhielten. Tatsächlich wanderten zahlreiche Regisseure und Darsteller auch wieder ab. Doch die Krise vmrde überwunden.

Einmal gelangten neue gute Kräfte in die Lim- matstadt, zum anderen verstanden es die meisten künstlerischen Leiter, das einmal erlangte Niveau zu halten. Und hier, glaube ich, spielt als wichtige Imponderabile doch auch die schweizerische Mentalität und Denkungsart eine wesentliche Rolle.

Es war nämlich nicht nur ein äußerlicher Zufall, daß die Schweiz plötzlich eine so wichtige Rolle gegenüber dem deutschen Theater erhielt. Die allgemeine Weltlage, politisch wie geistig, war einfach so geartet, daß der Schweiz eine Mission gegenüber den anderen Völkern zufiel. Es ist immerhin bemerkenswert, daß noch heute, zwölf Jahre nach dem Kriege, die beiden einzigen eindeutig profilierten deutschsprachigen Dramatiker der Nachkriegszeit die beiden Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sind. Ihr Schaffen basiert einerseits auf der Tatsache, daß man im und nach dem Kriege in der Schweiz, bei äußerer Distanz, aber doch starker innerer Beteiligung zu den Vorgängen in der Welt ein ebenso leidenschaftliches wie doch auch sachliches Verhältnis gewinnen konnte. Diese ersprießliche Doppelseitigkeit ging den Kriegsbeteiligten selbst vielfach gänzlich ab. Es ist auffallend, wie sich beide Dichter in vielen Werken gerade den Problemen und Nöten zugewandt haben, welche die Deutschen und Oesterreicher angingen und erregten. Zum anderen war das fruchtbare Schaffen der beiden Dramatiker aus Zürich und Bern auch nicht denkbar ohne die geradezu elektrisierende Atmosphäre des Zürcher Schauspielhauses und der schweizerischen Bühnen während jener

Jahre, da sie stellvertretend für alle deutschsprachigen Theater das freie Wort der Welt wach hielten.

Doch nicht nur in der direkten Aussage dramatischen Schaffens bekamen die Schweizer eine Wirkung, die über ihre Landesgrenze hinausstrahlte; Auch Regisseure, Bühnenbildner, Opernsolisten und Schauspieler wuchsen heran, die das Niveau der Provinztheater weit hinter sich ließen. Oskar Wälterlin, der früher schon durch seine Frankfurter Urinszenierung von Carl Orffs „Carmina Burana” hervorgetreten war, hat nach dem Kriege nicht nur in seinem Zürcher Schauspielhaus Modellaufführungen von Sartres „Räderwerk” über Giovanninettis „Grünes Blut” bis zur „Begnadeten Angst” von Bernanos geschaffen, auch in München, Düsseldorf, Wien und heuer bei den Hersfelder Festspielen hat er erfolgreich inszeniert. Das Merkmal seiner Einstudierungen ist Sauberkeit der Konturen und Enthaltsamkeit von Extravaganzen. Es ist überhaupt ein Kennzeichen der Interpretationsgesinnung schweizerischer Regisseure und derjenigen Kollegen, die wie Ginsberg, Hilpert, Horwitz, Lindtberg, Steckei usw. ein Jahrdutzend in Zürich gewirkt haben, daß sie nie zu forcier tem Avantgardismus oder zu bewußtem „Regietheater” neigen wie Fehling, Kortner oder Sell- ner. Vielmehr ist ihnen allen gemeinsam, daß sie den Klassikern mit überzeitlicher Wertung begegnen, während sie den zeitgenössischen

Stücken das eigentliche Profil, nicht aber irgendwelche provozierenden Effekte abzugewinnen suchen, die vielleicht gar nicht in ihnen enthalten sind. Der Verzicht auf .extreme Mittel führt freilich bisweilen auch einmal zu blassen Wirkungen, doch das wird aufgewogen durch eine Grundhaltung, die deutlich vom Respekt vor der Dichtung und den Originalwerten eines Werkes bestimmt ist.

Außerhalb der Schweiz haben auch der Berner Werner Kraut, ein Regisseur von stark optischem Sinn, der Basler Willy Duvoisin, der sich als heutiger Intendant der Bayrischen Staatsoperette um eine taktvolle Entstaubung der älteren Operetten und der Spieloper sowie um die Förderung des Musicals verdient gemacht hat, und schließlich der junge Werner Düggelin in letzter Zeit große Erfolge errungen. Düggelin, noch keine dreißig Jahre alt, gehört heute bereits zur ersten Garnitur deutscher Regisseure. Seine besondere Begabung beruht auf der instinktsicheren Uebertragung von Werken fremder Mentalität in die Sphäre der deutschen Sprache. Bei seiner Münchner „Columbus”- Inszenierung (Claudel) oder bei Schehades „Geschichte von Vasco” spürt man förmlich die spezifisch französische bzw. orientalische Luft,

ohne einen Augenblick lang das Gefühl gewollter Romanismen usw. zu haben. Kein Wunder, es gehört zum schweizerischen Kulturempfinden, aus einem nationalen Milieu ins andere hinüberzuwechseln, ohne zu straucheln.

Interessant ist auch der starke Zustrom schweizerischer Schauspieler ins übrige deutsche Theater. Auch er dürfte nicht nur zufällige Folge einer Sternstunde des schweizerischen Theaters sein, er erklärt sich zugleich aus der schweizerischen Theatermentalität. Dies deutlich zu machen, müssen wir sie mit der entsprechenden Mentalität in Oesterreich und in Deutschland vergleichen. Von Wien her, insbesondere vom Burgtheater, haben die österreichischen Schauspieler in ähnlicher Weise wie die Franzosen einen Bühnenstil empfangen und bewahrt, der sich von den wechselnden Zeitläuften nicht im mindesten so stark hat beeinträchtigen lassen wie der Stil der deutschen Theater. Der Sinn fürs Musische, emotionale Beweglichkeit und Musikalität der Sprache ergaben hier einen Stil, der das Publikum bewußt über den Alltag erheben sollte und der auch Pathos nicht scheute«; sofern es „tönt”. Ganz anders ist die Stilentwicklung in Deutschland verlaufen. Dem Pathos des 19. Jahrhunderts folgte eine antipathetische Darstellungsweise im Naturalismus. Hitlers Staatskult förderte wieder das Heroisch-Pathetische, bis nach 1945 abermals eine bewußte Gegenbewegung einsetzte: man „unterspielte” jetzt um jeden Preis, wagte keine idealen Gestalten wiederzugeben, ja man verwandelte oft Rollen, die z. B. ins Heldenfach oder ins Fach der jugendlichen Sentimentalen gehören, aus Furcht vor unzeitgemäßer Gefühlsintensität in Charakterrollen. Oft ergab das interessante neue Varianten, oft aber ausgesprochenen „Krampf”. Es entsprach nun der schweizerischen Mentalität, die weder durch geschichtliche Ereignisse solchen Schwankungen unterworfen war, wie die der Deutschen, und die wiederum in ihrer spröderen Art nicht ganz so enthusiastische Triebkräfte kennt wie die Mentalität der Oesterreicher, daß die schweizerischen Darsteller ohne besonderes Zutun, einfach aus ihrer natürlichen inneren Ausgeglichenheit heraus, sehr oft auf die ursprünglichste Art und Weise die mittleren Ausdruckswerte zwischen diesen genannten Extremen zu finden wußten. Denken wir an Darsteller wie Anne-Marie Blanc, Margit Ensin- ger, Annemarie Düringer, Elisabeth Müller, Maria Schell, Lieselotte Pulver, Peter Arens, Paul Bösiger, Paul Hubschmid und viele andere, so verbinden sie meistens auf eine recht natürliche Weise Reinheit mit einer gewissen Sprödigkeit, Idealität mit Nüchternheit, und sie liegen damit genau in der Mitte zwischen Verkrampfung und Emphase.

Nicht vergessen dürfen wir schließlich das sehr erfolgreiche Wirken Schweizer Bühnenbildner. Ihre Zahl im deutschsprachigen Theaterleben überschreitet weit den Proporz zwischen den Bevölkerungszahlen der Schweiz und der anderen Länder. Nennen wir nur Ruodi Barth, Max Eignens, Hans Erni, Ambrosius Humm, Josef Müller-Brockmann, Max Röthlisberger, Max Sulzbachner und vor allem den noch jungen Jörg Zimmermann, dessen Szenerien bei aller eigenwertigen Luzidität erstaunliche Assoziationen zum dichterischen Wort herstellen. Ohne nun schemenhafte Verallgemeinerungen treffen zu wollen, so läßt sich doch auch dem Wirken schweizerischer Bühnenbildner manches Gemeinsame ablesen. Vor allem spiegelt sich in ihren Szenen die präzise und saubere graphische Konzeption wider, die auch die Graphik und das Kunstgewerbe der Schweiz kennzeichnet.

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