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DIE VERFEHLTE WIRKLICHKEIT

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Theater in Moskau, Leningrad und Kiew

Während meines Aufenthaltes in Moskau waren zwei Premieren das Tagesgespräch: Bert Brechts „Dreigroschenoper“ im „Dramatischen Stanislawski-Theater“ und Gozzis „Prinzessin Turandot“ im „Wachtangow-Theater“. Diese Tatsache enthält für die heutige Situation des Theaters in der UdSSR viel Charakteristisches, denn bei beiden Aufführungen handelte es sich im Grund um bereits historisch gewordene Ereignisse, die nur unter den besonderen russischen Verhältnissen solch ein Aufsehen erregen konnten. Brechts „Dreigroschenoper" war seit dem letzten Krieg in der UdSSR nicht mehr gezeigt worden, da das Stück als anarchistisch galt und weder stilistisch noch inhaltlich der offiziellen Ästhetik entsprach. Man hatte zwar „Mutter Courage" und den „Kreidekreis" gegeben, in Leningrad bereitet man eben den „Aufhaltsamen Aufstieg des Artūro Ui“ noch dazu mit dem polnischen Regisseur Erwin Axer vor, doch bedeutete es stets einen Akt persönlichen Mutes, ein Werk von Brecht auf den Spielplan zu setzen. Jetzt endlich — und dies trotz der deprimierenden „Kulturdiskussion“ — riskierte man, Mackie Messer auf die Bretter zu stellen — und der Erfolg war triumphal. In der Premiere, die ich sah, tobte das Publikum, Songs mußten wiederholt werden, man merkte, wie tief die Zuschauer in der Luft der zwanziger Jahre auf atmeten. Die Aufführung war für westliche Begriffe zu laut, zu fern von Brechts schauspielerischen Prinzipien, aber berstend vor Vitalität.

Auch Gozzis „Prinzessin Turandot" stammte aus den zwanziger Jahren, da es sich um eine von Rüben Simonow bloß aufgefrischte Inszenierung Jewgenj Wachtangows handelte, die 1922 einen Markstein in der Entwicklung des russischen Theaters bedeutet hatte. Die Aufführung wirkte wie ein unbekannter Piran- dello, die Schauspieler erschienen im Frack, kostümierten sich auf offener Bühne, einige Akteure stürmten in den Zuschauerraum, unterhielten einander über die Köpfe des Publikums hinweg, und die interessante Musik von Sisow, ebenfalls vierzig Jahre alt, wurde, wie damals, auf Kämmen gesummt, die mit Seidenpapier umwickelt waren. Wieder gab es tosenden Beifall bei der von mir besuchten Premiere, und ich hatte tatsächlich eine der geistreichsten und reizvollsten Vorstellungen gesehen, an die ich mich erinnern kann — sie war nur nicht von heute. Schon einige Monate vorher hatte es ein ähnliches Ereignis auf musikalischem Gebiet gegeben: im „Musikalischen Stanislawski- Theater" war Dimitri Schostakowitschs seit dem Jahre 1934 verbotene Oper „Katerina Ismailowa“ (früher bekannt unter dem Titel „Lady Macbeth von Mzensk“) wiederaufgeführt worden. Trotz der „Bearbeitung“, die gemacht werden mußte, steht das Werk spürbar in der Nähe Alban Bergs, und der endlose Jubel des Publikums galt der „modernen“ Kunst, die man in historischen Jubiläen vorsichtig aufzunehmen wagt.

Man Scann im russischen Theat'erleben von heute, wie'fch aus vielen Gesprächen und dem Besuch von vierundzwanzig Vorstellungen zu erkennen glaube, drei Grundzüge feststellen: Als ersten die minuziöse Pflege der russischen Klassik, womit auf den Sprechbühnen vor allem Gogol, Gribojedow, Tolstoj und Tschechow gemeint sind. Als zweiten findet man eine ziemlich breite Produktion an geschickt zusammengebauten Zeitstücken, die aktuelle gesellschaftliche Probleme gestalten und dabei oft mit freilich genau ausgewogener Kritik nicht sparen. Und als dritten Zug sieht man den Versuch, eine möglichst echte Moderne auf dem Umweg über die zwanziger Jahre auf die Bühne zu bringen.

Die „klassischen“ Aufführungen haben ihre Höhepunkte im einst von Stanislawski gegründeten „Moskauer Künstlertheater“. Die Vorstellungen von Tschechows „Kirschgarten“ und Tolstojs „Früchte der Aufklärung", die ich sah, waren unvergeßliche Erlebnisse. Man konnte hier die Möglichkeit vollkommener Ensemblckunst und absoluter Natürlichkeit ermessen. Auf keiner Bühne des westlichen Europa fand ich an zwei Abenden so viele hervorragende Schauspielerpersönlichkeiten gleichzeitig auf der Bühne, nirgends einen solchen Reichtum überzeugender Typen — solch vornehme, blaublütige Aristokraten, solch urwüchsige Bauern. Man ist stundenlang verzaubert und könnte tagelang immer nur Zusehen. Freilich ist Stanislawskis subtiler Naturalismus eine rein bürgerliche Kunst, ihre Herrenhäuser sind gerade in Rußland längst leer oder zerstört. Aber wenn der Vorhang hochgeht, ist man in der Welt vor 1914, und nirgends in Europa ist man es so vollkommen, so selbstvergessen wie im Moskauer Künstlertheater. Der Westeuropäer ist fasziniert, überrumpelt, denn er hält eine solche Reise durch die Zeit für unmöglich. Wer das unmittelbare Bild des alten aristokratischen Europa liebevoll, nobel und mit weit weniger Kritik, als es im Westen üblich ist, vor sich haben will — er wird es nirgends so lebensnah finden wie eine Viertelstunde von Chruschtschows Schreibtisch. Eines der großen Paradoxa der östlichen Welt.

Ähnliches gilt auch für Oper und Ballett, denn im Bolschoj- Theater sieht man Tschaikowskijs „Schwanensee“ so beseelt, so entrückt getanzt wie anderswo nirgends mehr, und im Kongreßpalast wird Glinkas „Ein Leben für den Zaren“ (jetzt unter dem weniger verfänglichen Titel „Iwan Sussanin“) in der Aufführung des Bolschoj-Theaters als gewaltige Ausstattungsoper in herrlichen Farben und mit prächtigen Stimmen gebracht, wobei die Vitalität und Kraft der Aufführung vollkommen über die Tatsache hinwegzutäuschen vermag, daß wir uns nicht mehr im Jahre 1910 befinden. Gibt es, genau besehen, einen schärferen Widerspruch zur kommunistischen Wirklichkeit als solch einen Versuch? Nie wieder wird der Kommunismus sich aus dem Netz solcher und ähnlicher Widersprüche lösen, in die er sich verwickelt hat.

Die zeitgenössische Komponente des Theaters besteht aus einer ganzen Reihe zum Teil sehr gut gebauter Gebrauchsstücke, die sich mit mehr oder weniger offiziell diskutierten Themen befassen. Victor Rosows „Vor dem Abendessen“ beschäftigt sich mit dem Generationsproblem, ebenso Wassilj Aksionows „Kollegen“. Auch Chmeliks „Mein Freund Kolka“, Rybakows „Die Abenteuer von Krosch“, Aljochins „Krankenzimmer“ und Wolodins „Ernennung“ kreisen um die Probleme Jugend und Entstalinisierung. Vor allem die Aufführungen im „Kleinen Theater“ (Jewgenj Simonow), im Theater ,Die Zeitgenossen“ (Efremow) und im „Majakowski-Theater“ sind unkonventionell, sie arbeiten mit wegschwebenden Requisiten, sich bewegenden Wäti eit,"Überblendungen, verwenden also gewisse Surrealismen, solange sie auf ein Ziel hin organisiert sind, Allerdings kommen alle diese Werke nicht über die Realhtätsebene hinaus, und auf ihr, trotz manchen zweideutigen Anspielungen, nicht über ein bestimmtes Limit. Ein Beispiel der fast nur aus Aufträgen entstandenen zeitgenössischen Opern konnte ich nicht hören. Sie behandeln, wie ich mir sagen ließ, meist Themen der Revolution in durchaus konservativem, epigonalem Stil. Die eigentlichen „Experimente", soweit man von solchen sprechen kann, geschehen also unter sorgfältiger Absicherung durch Jubiläen oder sonstigen äußeren Anlässen als vorsichtiges Nippen an den Cocktails der zwanziger Jahre, die nun auch auch nicht gerade frisch geblieben, aber neben den noch älteren Essenzen (von denen nur der Wein des Künstlertheaters edel geblieben ist) wie aus eiskaltem Mixbecher neu belebend wirken.

Man spricht in Moskau viel davon, daß das Theater in Leningrad lebendiger sei, der Kreml ist ferner, und das wirke sich vorteilhaft aus. Tatsächlich arbeiten dort zwei sehr bekannte

Regisseure, Georgi Towstonogow und Nikolaj Akimow, als Theaterleiter, und manche Aufführung machte den Kunstrichtern im Kreml Sorgen, wie etwa jüngst erst Towstonogow mit Gribo- jedows „Verstand schafft Leiden“ — ein Stück, dessen Titel allein Schön in der UdSSR zu vielsagendem Lächeln Anlaß gibt. Die Vorstellungen, die ich in Leningrad sah, Dürrenmatts5 „Phyteikei"; Rosows „Vor dem Abendessen“, in der Oper Bizets „Carmen“, waren im schauspielerischen und stimmlichen Potential weitaus schwächer als Aufführungen in Moskau, und außer dem Abend mit Rosows Zeitstück auch in der Regie überaus blaß. Recht provinziell erschienen Aufführungen in Kiew, wobei man beim Ballett eine Ausnahme machen muß: ich sah eine hervorragende Vorstellung des „Don Quichotte“ von Minkus, und der Beifall den bei uns die Tenöre erhalten, gilt in Rußland den Tänzern.

Auf den 35 Bühnen Moskaus, den neun Bühnen in Leningrad, den sechs Bühnen in Kiew, die allabendlich ausverkauft sind, spielt man im Vergleich zu den Satellitenstaaten sehr wenige Stücke aus dem Westen. Merkwürdigerweise findet man gleichzeitig mehrere Komödien von Eduardo de Filippo, Dürrenmatts „Physiker“, sonst aber begegnete ich keinem lebenden westlichen Theaterautor. Weder Max Frisch noch Christopher Fry, nicht einmal Jean Anouilh, geschweige denn Eugene Ionesco oder Jean Genėt, und, soviel ich erfuhr, auch nicht Jean-Paul Sartre wurden je in der UdSSR aufgeführt, doch konnte man vor Jahren „Orpheus steigt herab“ von Tennessee Williams und — wie man mir erklärte — Arthur Millers „Hexenjagd“ sehen. An Klassikern aus dem Westen spielt man Friedrich Schiller mit den „Räubern“ und „Maria Stuart“ am häufigsten, hin und wieder auch Shakespeare und Lustspiele von Lope de Vega. Das überwältigende Übergewicht aber haben die russischen Autoren und die Stücke aus Ländern des Ostblocks.

So sind auf dem einst so berühmten Schauplatz der Erfolge Stanislawskis, Meyerholds, Tairoffs, Wachtangows nur die so zart und natürlich aussehenden künstlichen Blumen Stanislawskis erhalten geblieben — die Taten seiner ungestümen, in neue phantastische Bereiche vorstoßenden Schüler aber wurden beiseite geschoben, verpönt, vergessen, und man wagt erst jetzt, sich vorsichtig zu erinnern. Die Verfremdung Brechts drang niemals spürbar ein, dem angloamerikanischen Understatement und dem Stil des absurden Theaters blieben die Bühnen überhaupt verschlossen. Innerhalb der Gitter des sozialistischen Realismus, der nun den engen, freilich aber von heißen Grenzkämpfen erfüllten Binnenraum einer Teilwirklichkeit offenläßt, gedieh auch keine neue eigene Theaterkunst. So findet man vollendetes Spiel von gestern, gleichsam im Glashaus, und daneben überall aufgestaute, gewaltige Reserven an Begabung, sichtbar nur in spannungsdichten und aufregenden Ansätzen. Zum Entfalten des eigentlichen Theaterpotentials kommt es überhaupt nicht, da das freie Experimentieren, das Sichmessen an den Experimenten anderer nicht erlaubt ist. Wir können sicher sein, daß eben diese Tatsache den Ideologen im Kreml noch heftige Kopfschmerzen verursachen wird, da es in den größeren Städten kaum noch einen Künstler, kaum noch einen Intellektuellen gibt, der nicht von den Mängeln, die diese Eingrenzung zur Folge hat, überzeugt ist und nach Abhilfe strebt Werden aber die geistigen Grenzen (nach der Lockerung durch den 20. Parteitag von 1956, die zuwenig nachhaltig war) einmal großzügig erweitert, was wohl noch auf sich warten läßt, dann können wir uns auf Überraschungen gefaßt machen. Denn man wird jeden Quadratzentimeter der schwer errungenen, kostbaren Freiheit mit doppeltem und dreifachem Samen bebauen.

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