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Drei machen ein Kolleg

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Man meint in einem filmologischen Seminar zu sitzen, wenn das Kinoprogramm dieser Woche an drei bedeutenden Filmen drei völlig verschiedene Möglichkeiten exemplifiziert, wie Bühnenstücke (mit und ohne Musik) regelrecht auf die Leinwand projiziert werden können.

Der werkgetreu kopierte Burgtheater-„W i 1 h e 1 m-Teil“, nach Mozart und „Götz“ der dritte Versuch, gültige Wiener Bühnenleistungen größeren, vor allem jugendlichen Zuschauermassen der Gegenwart zu erschließen und für eine fachlich interessierte Nachwelt aufzubewahren, muß gerade aus diesen Gründen, die von den Initiatoren wie den Schöpfern dieser Filme laut und unmißverständlich verkündet worden sind, gegen die frostige Aufnahme auf der Berlinale wie gegen eine gereizte Gruppe der jüngsten Wiener Kritik in Schutz genommen werden. Ihm filmische Indolenz und Faulheit vorzuwerfen, well er selbst den „Pappendeckel“ der „staubigen Burg“ naturbelassen übernommen habe, heißt: den Urzweck des ganzen Vorhabens nicht kapieren. Dies ist eben eine Möglichkeit des Films, die reine dokumentarische Konserve, und es will uns scheinen, eine seiner dauerhaftesten und krisenfestesten. Der Film wird noch zu beweisen haben, daß seine frei vagabundierenden Spielelemente so lange halten, wie etwa der hier sorgsam aufbewahrte Monolog Baisers in der „hohlen Gasse“ oder Attinghausen-Aslans große Sterbeszene.

Nach einem sehr realistischen Vorspiel rollt in dem japanisch-italienischen Film „M adame Butte r f 1 y“ In einem — wohlgemerkt I — filmisch blendend zurechtgerückten Eigenraum von berückender farbiger Schönheit, aber doch streng bühnenmäßiger Begrenztheit, Szenen-, musik- und gesangsgetreu (mit den notwendigen unwesentlichen Verkürzungen) Puccinis Oper ab. Die hinreißende Anmut der japanischen Hauptdarstellerin, die makellosen Italienischen Stimmen und die große Leistung des Chors und Orchesters der römischen Oper haben diesem Film den berechtigten Ruf eingetragen, daß Puccini noch niemals in so überwältigender Schönheit und säkularer Besetzung „über die Bretter ging“. Auch die „zweite Möglichkeit“ also, ein Bühnendrama in den eigens geschaffenen, nicht wildgewordenen, sondern sehr disziplinierten Filmraum zu übertragen, ist herzhaft zu bejahen und enthebt den Zuschauer wie den Fachmann mühelos der Erörterung jener schwierigen Problematik, die das Thema „Die Oper im Film“ fast regelmäßig aufzuwerfen pflegt.

Problematisch wird der Fall „Bühne im Film“ erst im dritten Modellstüek dieser Woche, in der Wiener Verfilmung von Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“. Es gibt heute keinen zweiten Regisseur im österreichisch-deutschen Filmraum, dem man die freie „Verfilmung“ eines Bühnenklassikers eher anvertrauen kann als Josef v. Baky. Er hat das Gespür für die unwägbaren Substanzen und die letzte Instanz des Dichterischen, er hat den Mut zu filmischen Ausbiegungen, Verkürzungen und Unterstreichungen, er führt Walter Richters vitale George-Nachfolge noch über die große Leistung als „Postmeister“ hinaus und entdeckt in Nadja Tiller neue, ungeahnte schauspielerische Möglichkeiten. Und doch, und doch will in dem fast genialen Experiment der filmisch freien Bearbeitung ein Rest nicht aufgehen. Daß das großartige Filmfeuerlein am Schlüsse (Hauptmann war ein hänferner Strick für Henschels Ausweglosigkeit gut genug) ein wenig nach Gäng-hofer schmeckt, mag noch angehen. Aber der Film redet eben anders als der Dichter. Er ist immer deutlich, robust, gesellschaftlich. Er meint, was er sagt, nicht mehr und nicht weniger. Bei Gerhart Hauptmann aber ist immer noch etwas dahinter. Beim Film, beim Film an sich, ist immer nichts dahinter. So erleidet der „Fuhrmann Henschel“, obwohl einen Rang höher, das Schicksal des kürzlich verfilmten „Meineidbauers“: man zieht respektvoll den Hut, aber man geht nicht ins Knie.

Aber man liegt, wie der illustre Kritiker der „Wiener Zeitung“ zutreffend schreibt, richtig „am Boden zerstört“, wenn die letzte Schockszene des an Schocken überreichen französischen Spiel- und Tendenzfilms „Wir sind alle Mörder“ abgespult ist. Ein Film über die Qualen der zum Tode Verurteilten, im Grunde also, obwohl die Ultima ratio dem Zuschauer aufgehalst wird, gegen die Todesstrafe. Es ist schade, daß sich dieser Film in die unhaltbare These verbissen hat, der Kriminelle sei allein und ausschließlich das Produkt von Erbe, Zeit und Umwelt, somit also nur soweit schuldig wie seine Richter, Henker — und Zeitgenossen! Der Film würde sonst in seiner düsteren Großartigkeit, in seiner beklemmenden Charakteristik von Zeit und Menschen zu jenen sieben Weltwundern der Filmgeschichte zählen, die wie die Pyramiden von Gizeh nicht bröckeln. So aber hinterläßt er nur die Pein schlafloser Nächte und reiht sich in die große Gattung der Nachtstücke großer Kunst, die die Menschen quälen und aufstören und in einen unbarmherzigen, gnadenlosen Tag stoßen. Es mutet wie ein Sinnbild für den Geist dieses Filmes an, wenn ein Verzweifelter einmal das Altartuch vom Tisch reißt, Kerzen und Kruzifix damit umwirft — und dann, gefesselt an Händen und Füßen, zur Guillotine geschleift wird. Helf ihm Gott. Helf uns Gott — und dem Film.

Filmschau (Gutachten der Katholischen Filmkommission für Oesterreich), Nr. 45 und 46, vom 17. und 24. November 1956: II (Für alle zulässig): „Lustige Musikanten“, „Wilhelm Teil“ — III (Für Erwachsene und reifere Jugend): „Dem Tode entronnen“, „Madame Butterfly“, „SOS-Flieger nach vorn“, „Verlobung am Wolfgangsee“, „Der Hauptmann von Köpenick“, „Liebe, Sommer und Musik“, „Karussell“, „Liebe, Schnee und: Sonnenschein“, „Scotland Yard — Schrecken der Unterwelt“ — IV (Für Erwachsene): „An einem Tag wie jeder andere“, „Blutige Hände“, „Die Halbstarken“, „Klar Schiff zum Gefecht“, „Kleine, süße Bestie“, „Unsterbliche Liebe“ — IV a (Für Erwachsene mit Vorbehalt): „Desperados“, „Die Rosel vom Schwarzwald“, „Die zarte Falle“, „Fuhrmann Henschel“, „Wir sind alle Mörder“, „Der erste Frühlingstag“ — IVb (Für Erwachsene mit ernstem Vorbehalt): „Am Strand der Sünde“ — VI (Abzulehnen): „Zur roten Herberge“.

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