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Eine neue „Carmen”

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Zugunsten der Passung, welche er wählte — nämlich die traditionelle mit den von Ouiraud nachkomponierten Rezitaitiven —, hat der Regisseur Otto Schenk, der das Werk zum erstenmal inszenierte, wortreiche Erklärungen abgegeben. Aber seine Argumente sind von praktischen Gesichtspunkten bestimmt — und daher Unkünstlerisch und daher falsch. Es gibt nur eine richtige „Garmen”: das ist die Originalfassung mit Prosadialog, welcher die Musik, im 1. Akt achtmal, im 2. sechsmal, im 3. viermal und im letzten nicht mehr unterbricht. Was gab es da im letzten Akt noch an die Originalfassung „anzupassen”, als daß man das nachträglich eingefügte Ballett eliminierte? Ob man an der Wiener Staatsoper (wo „Carmen” vor 90 Jahren, unmittelbar nach des Komponisten Tod, zum erstenmal gegeben wurde) in deutscher Sprache oder französisch spielen soll — das ist ein weites Feld, welches wir heute nicht betreten wollen. Denn auch die bereits sehr stark verbesserte deutsche Carmen-Übertragung von Carmen Studer-Weingartner ließe sich noch vervollkommnen und wäre dann gut spielbar…

Bleiben wir also zunächst bei der Regie. Sie war wohldurchdacht und interessant. Otto Schenks Gefahr ist ein Zuviel an Einfällen und Bewegung. Das begann mit dem Massenaufgebot von Sängerknaben zu Beginn („Carmen” — eine Kinderoper), reichte über die turbulenten Raufereien der Fabrikarbeiterinnen (die an die Prügelszene in den „Meistersingern” erinnerten) und kulminierte in dem unübersichtlichen Gewühil im 4. Akt, den Regisseur und Bühnenbildner nicht vor, sondern unterhalb der Arena ansiedelten — eine originelle Idee, die zum ganzen Konzept gut paßte und bühnentechnisch sehr talentiert gelöst war.

Denn diese neue „Carmen” von Schenk und Günther Schneider- Siemssen ist keine Prunk- und Kositümoper (auch das Folkloristische wurde auf ein Minimum beschränkt), sondern ein realistisches, unter armen Leuten in Andalusien spielendes Schauspiel, in dem die Schwarz- weißtönie und die gedämpften Farben (auch der Kostüme von Hill Reihs-Gromes) nie den Eindruck und Effekt des „Festlichen” aufkommen lassen. Mit diesem Teil der Realisierung darf man sich vorbehaltlos ein verstanden erklären, vor allem deshalb, weil sie der Novelle Mėri- mėes, auf der das Textbuch der beiden Routiniers Meilhac und Halėvy basiert, genau entspricht.

- Aber eine „Carmen”-Aufführung ist weitgehend von der Trägerin der Hauptpartie abhängig. Sie. hieß am vergangenen Montagabend Christa Ludwig, und sie hat ihre Partie — in tadellosem Französisch — großartig gesungen, mit einem bemerkenswerten, ja bewunderungswürdigen Reichtum vokaler Nuancen. Daß Frau Ludwig keine Carmen ist — dafür kann sie nichts, sie bemühte sich mit Einsatz aller ihr zur Verfügung stehender schauspielerischer Mittel, eine zu sein. Jedoch — wie schrieb schon Paul Stefan in seinem letzten Werk, einer Bizet-Monogra- phie, die er kurz vor seinem Tod im Jahr 1943 vollendete: „Da hat man nun so viele Sängerinnen gehört, dramatischer Sopran, Mezzo, Alt — und gibt zuletzt der französischen Soubrette den Preis, die nicht Primadonna sein will, sondern nichts als eine Frau ist, der man ihr tragisches Wesen glaubt.” Um so glaubwürdiger — weil vom Klischee des Unschuldsengels abweichend, originell erdacht und gut geführt: Jeanette Pilou als Micaela, eine kleine Kokette vom Land, von reizendem Aussehen und mit einer Silberstimme ausgestattet. Der Don Josė ist keine leichte Rolle, aber sie wurde von James King rechit natürlich dargestellt und sehr schön gesungen. Ėberhard Wächter war als Toreador nicht gerade umwerfend und stimmlich an diesem Abend recht matt. Die Freundinnen Carmens konnten mit Lucia Popp und Margarita Ulowa luxuriös besetzt weiden.

Für Lorin Maazel, den jungen Berliner Generalmusikdirektor, kann kein Lob zu hoch sein, zumal wenn man erfährt, daß er die Carmen- Musik zum erstenmal dirigiert hat. Vom ersten Takt -an zeigte das Orchester unter seiner zügigen, elastischen und temperamentvollen Leitung Schwung und Brillanz. Die lyrischen Passagen gerieten nicht weniger eindrucksvoll, ohne jemals ins Sentimental-Süßliche abzugleiten. Im Ganzen: ein bemerkenswerter Abend, dem bedeutenden Werk (das viele als „die Oper aller Opern” lieben) angemessen, trotz einiger Einwände.

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