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Fragezeichen über dem Grünen Hügel

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Noch hat Bayreuth entscheidenden Vorsprung vor Ka-rajans Osterfestivität in Salzburg. Aber wie lange noch? Auf dem „Grünen Hügel“ wirkt die Atmosphäre. Sie ist unvergleichlich und nicht einfach abzütün mit Wagner-Kult und Pseudoreligiosität. Sie wird erlebt als ein Sog der Konzentration aufs Werk, in den auch Traditionen hineinspielen, die sich in leuchtende Progressionen verwandelt haben. Aber das Kunstwerk der Zukunft ist nicht mehr das Leitmotiv Bayreuths. Die einst spannungsvolle Atmosphäre verdünnt sich. Mit sensationellen Gags sei heute kein Theater mehr zu machen, sagt Wolfgang Wagner und hat in einer Hinsicht gewiß recht: es ist gut, daß die internationale Presse sich.nicht spaltenlang fast nur mit den Inszenierungen beschäftigt, sondern endlich nach neuen Aspekten der Bewertung zu suchen bereit ist.

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Noch hat Bayreuth entscheidenden Vorsprung vor Ka-rajans Osterfestivität in Salzburg. Aber wie lange noch? Auf dem „Grünen Hügel“ wirkt die Atmosphäre. Sie ist unvergleichlich und nicht einfach abzütün mit Wagner-Kult und Pseudoreligiosität. Sie wird erlebt als ein Sog der Konzentration aufs Werk, in den auch Traditionen hineinspielen, die sich in leuchtende Progressionen verwandelt haben. Aber das Kunstwerk der Zukunft ist nicht mehr das Leitmotiv Bayreuths. Die einst spannungsvolle Atmosphäre verdünnt sich. Mit sensationellen Gags sei heute kein Theater mehr zu machen, sagt Wolfgang Wagner und hat in einer Hinsicht gewiß recht: es ist gut, daß die internationale Presse sich.nicht spaltenlang fast nur mit den Inszenierungen beschäftigt, sondern endlich nach neuen Aspekten der Bewertung zu suchen bereit ist.

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An diesem Punkt hielt Wieland Wagner vor seinem Tod im Herbst 1966 schon. Er hat schließlich Karl Böhm zu einem unvergleichlichen „Tristan“ herausgefordert, hat Pierre Boulez für den „Parsifal“ engagiert. Und es ist sicher nicht gut, wenn die Inszenierungen so beschaffen sind, daß über sie eigentlich überhaupt nicht mehr gesprochen zu werden brauchte. Doch Wolfgang Wagner kann schlechterdings auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß er kein zweiter Wieland ist, sondern ein solider, zur Mitte strebender, organisatorisch und kaufmännisch hochbefähigter Theaterfachmann, der geborene Generalintendant für ein Staatstheater mit Abonnement und Volksbühne. Dieses nicht — jenes nicht; Verneinungen — ein Vakuum. In Bayreuth fiel ein Vorhang. Uber dem Grünen Hügel steht ein Fragezeichen. Zwei Vorhänge eigentlich: Zum letzten Male wurde Meister Wieland Wagners „Tristan“-Inszenierung gezeigt (mit Böhm am Pult — für 1973 hat Bernstein sich selber empfohlen, aber der Regisseur ist noch nicht gefunden), und zum letzten Male dirigierte Pierre Boulez — vorerst — in Bayreuth den „Parsifal“ (die Inszenierung Wieland Wagners bleibt noch erhalten, doch das ist mehr eine Zweckmäßigkeitsentscheidung). Die „Parsifai“-Proben und -Aufführungen des Jahres 1970 geben das Material einer Schallplattenproduktion ab. Zugleich legte Pierre Boulez einen Rechenschaftsbericht „Wege zu Parsifal“ vor. Aus diesem Resümee einer rationalen Passion, das auch der Schallplattenkassette beigegeben wird, aus diesem gedankenklaren Arbeitsfazit eines Praktikers, der sich's schwer macht wie wenige heute, wird in Zukunft mehr als genug zitiert werden. An einer Stelle des Aufsatzes heißt es, Wagner führe den Traum der Romantik zu Ende, er „voll-ende“ ihn durch Übertreibung. „Wagners Illusion ist... so beschaffen, daß sie alle Illusionen zerstört.“

Welch ein Absprung, welch ein neuer Ansatz zum Szenischen, diesmal nicht im Sinn von „Entrümpe-lung“, sondern konkret vom Musikalischen her: Vollendung der Romantik durch Übertreibung, In-fragestellen von Erkenntnis durch Illusion und umgekehrt, schließlich konsequente Zerstörung der Illusionen ...! Was aber war zu sehen? Ein Aufguß schlechten, unstimmigen Illusionstheaters mit billigen Lichtzaubereien und einer kindhaften Freude an Bühnentechnik — „Der fliegende Holländer“, inszeniert von August Everding, Bühnenbild von Josef Svoboda; eine bieder-bürgerliche, weitgehend ungeordnete „Meistersinger“-Inszenierung mit einem schon ärgerlichen Zeichen von Dilettantismus (die Wolfgang Wagner, der Regisseur, sonst abgelegt hat), wenn die Pantomimenmusik Beckmessers mit ihrer gezackten Rhythmik nur einfach nachgestellt ist, was dem intelligenten, wenngleich stimmlich enttäuschenden Thomas Hemsley eine Charge letzter Güte abnötigte. Einsam dagegen standen im Wortsinn „Tristan und Isolde“ (Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen) in jener Inszenierung, die zu den großen Lösungen Wieland Wagners zählt, aber eilfertig von einem namhaften Blatt als „Modernismus von vorgestern“ denunziert wurde. Gewiß, es muß weitergehen in Bayreuth; länger kann man nun kaum konservieren oder Vergangenem nachtrauern. Die Ironie, mit der Wieland Wagner dies registrieren würde, hör' ich schon. Aber wie geht es weiter, beispielsweise in Wolfgang Wagners Neuinszenierung des „Ringes“?

Am Schluß der „Götterdämmerung“ feiern die Projektoren Orgien. Richard Wagners ausschweifende Regievorschriften lassen kaum eine andere Möglichkeit zu. Muß darum die Götterburg ein riesiges Himbeerbonbon sein? Die „Ring“-Tetralogie solle, hatte der Regisseur verkündet, auf das Ende einer Gesellschaftsschicht zuführen, die in Walhall nicht verbrennt, sondern verglüht. Das klang einleuchtend, zeitgemäß. Aber es gehört auch zu der durch Richard Wagner begründeten Tradition, daß manches Richtige und Zukunftsweisende zum Kitsch entartet, zumindest die Entartung als Gefahr in sich trägt. Wieland Wagner ist ihr keineswegs immer ausgewichen. Der neue „Ring“ ist im Programmheft ein wenig mit gesellschaftkritischer Rhetorik drapiert. Zwischen den Zeilen liest sich das weniger fortschrittlich. Die Bildgestalt von i960 — dem Jahr der ersten „Ring“-Inszene Wolfgang Wagners — ist in den Grundzügen beibehalten: die aufspaltbare, tellerartig gewölbte Weltschedbe; neu das kothurnhafte, symbolhaltige Fünfeck in der Mitte und die vertikal im Konkavausschnitt sich öffnende Bühne. Es dominiert das Märchenhafte, aber auch das geistig und räumlich Verkleinerte. Die Inszenierung wirkt beruhigend, beschwichtigend, ästhetisch. Niemand wird vor den Kopf gestoßen, es wird jedoch auch nichts in die Köpfe hineingestoßen. Das angeblich Schöne ist wieder etabliert. Horst Steins musikalische Direktion hat einen tragischen Aspekt — einen, der sich allerdings im kommenden Jahr aufhellen kann. Mit dem Epitheton „hell“ ist nicht der Orchesterklang selber gemeint: da mangelte es an Helligkeit nicht. Im Gegenteil: Wagner wurde anfangs musiziert wie Mozart oder Debussy, überwiegend als Kammermusik, rhythmisch pointiert, sprechend in den Motiven, oftmals blühend im Klang des an den ersten beiden „Ring“-Abenden nahezu makellos spielenden Orchesters. Selbst wo man's undifferen-ziert-pompös gewohnt ist — wie am Schluß des „Rheingold“ —, setzte Stein die Akzente gleichsam forte-piano; er dachte nicht daran, sich auszuruhen auf Tongewoge und Donnerblech. Ein Ideal von ihm, daß der Ablauf ruhiger wirken möge, aber nach der tatsächlichen Uhrzeit schneller sei, schien erreicht. Aber im „Siegfried“ schon enttäuschte der unpoetische Waldakt, und die „Götterdämmerung“ geriet nicht zur Raffung und Kulmination des Ganzen. Es dämmerte unentschieden in der Musik, als sei sie — wie Wotan der Wanderer am Abend zuvor — sich selbst entfremdet.

Erfreulicher das Sängerensemble: selten gab es auf dem Hügel ein in Stimme und Erscheinung so jung wirkendes Wälsungenpaar wie die Sieglinde der Gwyneth Jones und den Siegmund des Helge Brilioth. Der Siegfried von Jean Cox wurde besser, je näher er dem Tod kam: in Mimes Schmiede hatte der „hastige Knabe“ noch einen stumpfen und angestrengt wirkenden Stimmklang; im Rheintal — einer sehr unklaren Gegend zwischen Dolomiten und Loch Ness — verfügte er über einen strahlenden Tenor. Jugendlich-stählern die unökonomisch singende, helltimbrierte

Brünnhilde der Berit Lindholm; schade, daß sie, wenn sie Schmerz ausdrücken wollte, eher Magenkrämpfe darstellte. Uberhaupt waren Haltungen der Sänger kaum korrigiert. Karl Ridderbusch zum Beispiel, mit mächtiger, gleichwohl zu jeder Differenzierung fähiger Stimme begabt, ist ein Bayreuth-Sänger par excellence und gleich in fünf Partien eingesetzt, darunter Fasolt, Hunding, Hagen; darstellerisch müßte er in Feinarbeit aus rasch sich einstellenden Klischees gelöst werden. Thomas Stewart, im ersten Zyklus Wotan und Wanderer (im zweiten singt Theo Adam) kompensierte Mangel an Kraft durch hochmusikalische Phrasierung. Ist all das genug? Die Erfüllung einer Festspielutopie oder ihr glanzloser Rest? Das Fragezeichen bleibt.

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