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GETANZTER DOSTOJEWSKIJ

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Anmerkungen zu einigen neuen Balletten und zum Wiener Opernballett

“7or kurzem schrieb ein deutscher Ballettfachmann, der zu- gleich auch eine umfassende Übersicht über das internationale Repertoire hat, daß es im Ballett und auf der Tanzbühne noch nie so lebendig zugegangen sei wie heute, nicht einmal in den sagenhaften „goldenen zwanziger Jahren”, als man außerhalb von Diaghilews „Ballets Russes” die ganze tänzerische Initiative im wesentlichen der Bewegung des Ausdruckstanzes zugute kommen ließ. Es fehlten damals die großen, auf internationaler Ebene miteinander rivalisierenden Ballettkompanien; es fehlte der ständige Zustrom folkloristischer und exotischer Tanzgruppen; es fehlten auch die das zeitgenössische Ballett bereichernden choreographischen Beiträge im Rahmen des leich- * teren musikalischen Unterhaltungstheaters, wie wir sie durch amerikanische Tanztruppen oder durch in Amerika geschulte Musical-Regisseure auch bei uns in Wien kennengelernt haben.

Die Renaissance des klassischen Tanzes, wie wir sie nach 1945 vor allem auf deutschen Bühnen erlebt haben, war die eine Ursache für eine neue Blüte des Balletts. Aber auch der alte Ausdruckstanz, in der internationalen Ballettsprache summarisch als „deutscher Tanz” bezeichnet, bildet eine wichtige Komponente. Hinzu kommt die von sehr bedeutenden Choreographen und Solotänzern erneuerte Kunst der Pantomime und des Mimodrams. Ein besonderes Kapitel ist das literarische Ballett, der Versuch, ganze Dramen, ja sogar Romane ins Tänzerische zu übersetzen und, mit Hilfe eigens dafür komponierter Musik, auf die Tanzbühne zu bringen.

Auf diesem Gebiet hat sich besonders Tatjana Gsovky, seit vielen Jahren Ballettmeisterin der Berliner Oper, hervorgetan und einen internationalen Namen gemacht. Es gibt von ihr nicht nur ein „Hamlet”- und ein ,.OthelIo”-Ballet, sondern auch eine Choreographie nach Dostojewskijs Roman „Der Idiot”. Ihr letzter Versuch war die Ballettpantomime „Die Tat” nach Dostojewskijs Roman t,Schuld und Sühne”. Für dieses etwa 40 Minuten dauernde Ballett ließ sich die Künstlerin von Hermann Heiß eine elektronische Musik anfertigen, die in wochenlanger enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten entstanden ist. Das war ein sehr glücklicher Einfall, denn gerade zur Darstellung des Düsteren, Unheimlichen und Dämonischen sind diese im Hexenkessel der elektronischen Studios erzeugten Klänge und Geräusche ganz besonders geeignet.

Das Raskolnikow-Ballett „Die Tat” wurde während der Berliner Festwochen uraufgeführt und ist lebhaft diskutiert worden, wobei immer wieder auch die Frage der künstlerischen Berechtigung des ganzen Genres „literarisches Ballett” erörtert wurde. — Als Hauptakteure standen der Choreographin erstklassige Künstler zur Verfügung: Gert Reinholm und Marion Vitzthum, für die Ausstattung Werner Schachteli. Eine Hauptattraktion des interessanten Abends war Harald Kreutzberg in der Rolle des Richters. Der große Tänzer hat bekanntlich vor einiger Zeit als „Solist” Abschied genommen, und, wie er m Berlin erklärte, ist dieser Abschied ein endgültiger. Dagegen tritt Kreutzberg jetzt häufig auf deutschen Bühnen und im Fernsehen als Schauspieler auf. Hier, im neuen Ballett von Tatjana Gsovsky, war er — zum erstenmal nach jahrzehntelanger Pause — als Mitglied eines Ensembles eingesetzt, und Kreutzberg beteuerte in einer Pressekonferenz, welch großes Vergnügen ihm diese neue Art künstlerischer Betätigung bereite: weil er sich wieder um die Choreographie noch um die Musik noch um sein Kostüm zu kümmern brauche. Diese Sorgen hätten nun andere Leute, und er bemühte sich eifrig, den ihm im Ensemble zugewiesenen Part zu spielen, natürlich nicht ohne auch einer Nebenrolle das typisch Kreutzbergsche Gepräge zu verleihen.

Die künstlerische Bilanz dieses Raskolnikow-Balletts zu ziehen, ist nicht ganz einfach. Die Handlung mußte natürlich wesentlich vereinfacht und auf einige entscheidende Szenen des umfangreichen und vielschichtigen Dostojewskij-Romans zusammengezogen werden, so daß das stärkere Erlebnis zweifellos jene Zuschauer hatten, die den Roman „Schuld und Sühne” bereits kannten. Trotz Auswahl und Konzentration gab es aber immer noch Szenen, in denen mit Hilfe der Gebärde allzuviel „erzählt” werden mußte, und gerade hier blieb Kreutzberg in jenen konventionellen Gebärden stecken, die wir von vielen seiner Solotänze kennen. Aber es gab auch von dem makabren Gegenstand und der unheimlichen Geräuschkulisse inspirierte Momente von großer suggestiver Kraft, die man in dieser Art weder im Sprechtheater noch in einer Opernaufführung erlebt.

Im neuen Haus der Deutschen Oper Berlin wurden an einem

Abend drei weitere neue Ballette aufgeführt. Bezeichnenderweise wählte Tatjana Gsovsky hierfür drei Partituren, von denen nur eine in der Absicht geschrieben wurde, „vertanzt” zu werden. „Les Illumination” von Benjamin Britten ist eine Komposition für Tenorsolo und Orchester auf Texte von Arthur Rimbaud. Die „Improvisations sur Mallarme” von Pierre Boulez sind für eine Sopranstimme und ein kleines, vorwiegend aus den verschiedenartigsten Schlaginstrumenten nebst Vibraphon und Xylophon (ohne Blas- und Streichinstrumente) geschriebenes Konzertstück mit exotischem Klang und Reiz. Über „Les Noces” sagte Strawinskij, daß es ihm nicht darauf ankam, irgendwelche folkloristische Hochzeitsbräuche aufzuzeichnen, er habe sich vielmehr eine rituelle szenische Zeremonie erfunden, für deren Untermalung ihm ein Ensemble aus vier Klavieren und Schlaginstrumenten zur Begleitung der Solostimmen und des Chores am geeignetsten erschien.

Das Gemeinsame dieser Ballette war ihr poetischer, jeweils durch Gesangstexte verdeutlichter Gehalt sowie ihr visionärer, hochartistischer Charakter. Am extremsten tendierten in diese Richtung die „Improvisationen nach Mailarme”, als großer Pas de deux von Tana Herzberg und Wolfgang Leistner in und vor einer abstrakten Eisenkonstruktion getanzt (Choreographie: Deryk Mendel). Am handfestesten geriet Strawinskijs „Bauernhochzeit”, bei deren Darstellung Tatjana Gsovsky aber auf das Primitive und Rituelle zugunsten einer allerdings bildschönen Nobelausstattung (und entsprechender, sehr gemäßigter Gesten) verzichtete. Den Namen des Bühnenbildners sollte man sich auch bei uns notieren: Er heißt Michel Raffaeli und-erhielt für seine ebenso dekorativen wie atmosphärisch richtigen Bilder und Kostüme Szenenapplaus.

Obwohl Strawinskijs „Noces” kein ganz unbekanntes Werk mehr sind und die beiden anderen Ballette sowie die eingangs besprochene Pantomime „Die Tat” schon wegen der Schwierigkeit ihrer Ausführung und wegen der Ansprüche, die sie an das Publikum stellt, kaum ins ständige Tanzrepertoire anderer Bühnen übernommen werden, so ist es doch verdienstvoll, solche Experimente zu wagen, neue Formen zu erproben und die jungen Tänzer vor schwierige Aufgaben zu stellen, die mit Routinetechnik nicht zu bewältigen sind. Diese Initiative verdankt das Berliner Ballett seit Jahren Tatjana Gsovsky, die nicht nur Ideen hat, sondern es auch versteht, prominente Mitarbeiter für ihr Werk (Komponisten, Bühnenbildner, große Tänzer) zu gewinnen.

Diese Initiative fehlt bei uns schon seit Jahren, zumindest seit dem Tod Erika Hankas. Wir haben ein großes, mehr als 70 Mitglieder zählendes Staatsopernballett, das zu zwei Drittel, vielleicht zu drei Viertel aus leistungsfähigen und auch arbeitswilligen, für neue Anregungen dankbaren Tänzern besteht. Aber sie entbehren der künstlerischen und geistigen Führung — und kommen viel zu selten zum Zug. Während der vergangenen Saison zum Beispiel hatte das Staatsopernballett nur etwa 20 Abende und eine einzige Premiere (mit zwei neuen Balletten). Das ist, auch unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit, nicht zu verantworten. Aber anscheinend ist in der derzeitigen Opernleitung niemand vorhanden, der sich für das Ballett wirklieh interessiert, für jene Kunstform und jenes Repertoire, das in den Spielplänen großer ausländischer Opernhäuser längst seinen festen Platz und im Bewußtsein der kunstinteressierten Öffentlichkeit sein Ansehen hat. (An der Spitze der deutschsprachigen Bühnen stehen die Ballette von Hamburg, Berlin und Köln.) Vor allem gebührt dem Ballett sein Jour fix, der zugleich auch eine sicher wünschenswerte Entlastung des Opernbetriebes bringen würde.

Das Niveau der künftigen Programme und Darbietungen wird aber zu allererst Von der Persönlichkeit des Ballettmeisters abhängen. Wir haben an dieser Stelle wiederholt vor halben Lösungen gewarnt, natürlich vergeblich. Dafür gab es wahrend der letzten Zeit einige so müde Ballettabende, wie man sie schon lange nicht gesehen hat. Dieses Finale war mit großer Sicherheit vorauszusehen. Um den technischen Standard zu halten, bedarf es ferner eines entsprechend energischen und pädagogisch begabten stellvertretenden Ballettmeisters. Ob sich der neubestellte Leiter der Ballettschule bewähren wird, ist noch abzuwarten. Hingegen scheint ein ständiger Inspekteur für die einzelnen Vorstellungen überhaupt zu fehlen. Wenn diese Kardinalfragen einmal gelöst sind (und wir hoffen sehr, daß dies noch im Laufe dieser Spielzeit sein wird), kann an die Erarbeitung eines Repertoires geschritten werden, das interessanter sein könnte als das bisherige und für dps wir einige Ideen hätten. Doch hierüber ein andermal.

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