6778636-1969_32_14.jpg
Digital In Arbeit

Glanzvolles Finale

Werbung
Werbung
Werbung

Eine Ära des New Yorker Musiklebens ist mit dieser Saison zu Ende gegangen — eine der interessantesten, dynamischsten in ihrer Bedeutung für die Zukunft des amerikanischen Musiklebens. Leonard Bernstein — der seit mehr als einem Jahrzehnt die Geschicke der New Yorker Philharmonie leitet — ist zum letztenmal als ständiger Dirigent vor dem Orchester gestanden, das in mehr als einem Sinne zu „seinem“ Orchester geworden ist. Er wird gelegentlich als Gastdirigent in Erscheinung treten — aber es wird nicht annähernd dasselbe sein wie Leonard Bernstein als Leiter und ständiger Dirigent der Philharmoniker. Typisch sein Abschiedsprogramm: Mahlers III. Symphonie, jenes Werk, das der Komponist der Natur gewidmet hat — in dem er offenbart, was Blumen, Tiere, Menschen, Engel und die Liebe zu erzählen haben. Bernstein fühlt sich mit Mahler verbunden wie mit wenigen anderen Komponisten; das Gesamtwerk Mahlers hat ihn von jeher fasziniert, und er war es, der zu einem wesentlichen Teil die Mahler-Renaissance in den Vereinigten Staaten bewirkt hat. Die Wahl der III. Symphonie für sein Abschiedskonzert ist ein Schlußpunkt hinter einer Entwicklung, die ihren Beginn mit Bruno Walter nahm — der nicht nur Mahler und sein Werk in Amerika bekannt machte, sondern auch dem jungen Bernstein den Weg wies ... Daß dieser dann diesen Weg fortsetzte, ist nicht verwunderlich.

Auf den ersten Blick haben Bernstein und Mahler wenig gemeinsam. Letzterer litt unter Depressionen, war „schwierig“ und mit seiner eigenen Arbeit nie zufrieden. Er war der ewig Suchende, der an sich und seiner Welt Zweifelnde, der Begriffe wie Glück und Zufriedenheit kaum kannte. Bernstein seinerseits verfügt über eine mitreißende, anstek-kende Dynamik — er macht kein Geheimnis daraus, daß er sich zu den Komponisten zählt, • deren Werke Ewigkeitswert haben, und daß sein Schaffen als Dirigent richtunggebend für eine ganze Generation von jungen Dirigenten sein wird. Man könnte sagen, daß dort, wo Mahler Zweifel an sich selbst fühlte, Bernstein voll Selbstvertrauen ist — wo Mahler immer der Suchende blieb, ist Bernstein immer ein Optimist gewesen, dem alles in den Schoß fiel. War es heute nur ein Plan, so wurde er bald darauf in die Tat umgesetzt. Auch wenn das Ergebnis nicht immer befriedigend war — Bernstein war von seiner Arbeit fast immer befriedigt.

Aber so wie im täglichen Leben, ist es anscheinend auch in der Musik: die Gegensätze ziehen sich an — Bernstein war von Mahlers Persönlichkeit ebenso fasziniert wie von dessen Musik. Er brachte Jahre seiner Karriere mit dem Mahler-Studium zu, und bald, nachem er das Pult der New Yorker Philharmoniker übernommen hatte, wurden die bisher vernachlässigten Symphonien Mahlers öfter und öfter in seinen Konzerten gehört. Doch liegt die Verbundenheit dieser beiden Musiker nicht durchwegs in den sich anziehenden Gegensätzen. Wer Bernstein kennt, weiß von seiner Besessenheit von der Musik — und das gleiche gilt schließlich auch für Gustav Mahler. Sein berühmter Ausspruch „Tradition ist Schlamperei“ ist in anderen Worten auch von Bernstein ausgedrückt worden: „Musik ist etwas Atmendes und muß immer als solches angesehen werden.“ Die Verbindung liegt sowohl auf dem Gebiet des Dirigierens wie auf jenem der Komposition. Die Ziele liegen hoch, und wahrscheinlich erkennt Bernstein etwas von seiner eigenen Philosophie im Werk seines Vorgängers. Daß er die Musik Gustav Mahlers dem amerikanischen Publikum näher brachte und mit vieler Sorgfalt verständlicher gemacht hat, ist eines der Verdienste der Ära Bernstein, die typischerweise mit einer Mahler-Symphonie ihr Ende findet. Bernsteins Nachfolger heißt: Pierre Boulez. Wie er zu Mahler steht, wissen wir nicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung