
Goethe, dekonstruiert
Martin Kušejs „Faust“-Inszenierung als Wiener Premiere: Die bereits vor fünf Jahren in München entstandene Produktion hat nichts an Intensität eingebüßt.
Martin Kušejs „Faust“-Inszenierung als Wiener Premiere: Die bereits vor fünf Jahren in München entstandene Produktion hat nichts an Intensität eingebüßt.
Diese „Faust“-Interpretation entspricht weder den üblichen Sehgewohnheiten noch bekannten Szenenfolgen. Der deutsche Autor Albert Ostermaier hat einen Mix aus beiden Teilen von Goethes Drama zusammengestellt, der sich in Kušejs Regie als dystopischer Gesellschaftsbefund präsentiert. „Faust“ spielt hier auf einem heruntergekommenen Fabriksgelände (Bühne: Aleksandar Denić). Hohe Zäune umgeben leere Plätze. Ein riesiger Kran ragt in dunkle Höhen, der Spruch „Honi soit qui mal y pense“ steht über einer Frauensilhouette. „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“, lassen sich die berühmten Worte übersetzen. In der überwachten Zone kann es nur Gut und Böse, Richtig und Falsch geben. Hierin liegt der zentrale Konflikt der Tragödie: In der Dualität, im Schwarz-Weiß-Denken sind die Katastrophen begründet.
In Kušejs Inszenierung ist Mephisto ein Teufel, der viele Seiten offenbart und der das „Böse“ in zahlreiche Aspekte auffächert. Bibiana Beglau, neu im Burgtheater-Ensemble, ist die ideale Besetzung für diesen Mephisto, der aus Verzweiflung, Angst, Demütigung, Hass und unstillbarer Gier agiert. Bereits im ersten Auftritt wird Mephisto klar als die andere Seite des Gottesgesichtes vorgestellt. Er ist der ins ewige Nichts gestürzte Engel Luzifer, selbst handlungsunfähig. Bibiana Beglau tritt im eleganten schwarzen Anzug auf, legt das Sakko ab und fasst sich an die dunklen Narben am Rücken, an jene Stellen, an denen einst die Engelsflügel wuchsen. Der Phantomschmerz plagt diese geschundene Kreatur. Geradezu akrobatisch windet sich Beglau, ihr Spiel ist von außergewöhnlicher Durchlässigkeit und geradezu perfekter Körperbeherrschung.
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