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Großstadtensemble und die kleine Rolle

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Zur Diskussion steht das Ensemble: das durch Jahresverträge und infolge langfristiger menschlicher und schöpferischer Kontakte zusammengefügte „künstlerische Personal“, das dem Haus, dem es verpflichtet ist, Substanz, Profil und Eigenständigkeit verleiht. Der in Stil und Tönen aufeinander eingespielte Klangkörper. Jene verkörperte Idee von der Kontinuität eines künstlerisch-individuellen Konzepts, die ihre Wurzel in der Reisegefährtenschaft des fahrenden Volkes schlug und bindend blieb für die Zeit des großstädtischen Qualitätsanspruchs, als der Truppengeist der Komödiantenwagen seßhaft wurde.

Ein Grundbegriff und Bekenntnis zum überlieferten Theater also, im Gegensatz zum „Produktions-Theater“ heute vielfach zeitbedingter — und außereuropäischer — Prägung, bei dem es die konsequente und rigorose Anwendung maschineller Leistungsprizipien immer wieder zu Höchstleistungen bringt, um sie auszuschroten bis zum letzten Cent — und um dann das Erreichte in alle Winde zerstieben zu lassen, um von Neuem zu beginnen, mit frischen Kräften und unter anderen, mit dem Vorhergegangenen in keiner Beziehung stehenden Aspekten: ohne Blick aufs Ganze, unter Verzicht auf die Stärke des Bleibenden, des Fortführenden, des ideell Berufenen.

Die Trennungslinie ist klar: hier Schaubühne, dort „Show-business“. Zwei unvereinbare Prinzipien. Das eine, den materialistischen Vorzeichen der Zeit zufolge, schwer bedrängt — das andere, im Fahrwasser derselben Erscheinungen, auf dem Vormarsch: das eine, zur Subvention verdammt — das andere aus den Quellen der wissenschaftlichen Geschäftsroutine schöpfend; das eine, an das wir schon unserem Wesen nach und kraft der Ueberlieferung glauben — das andere, dessen Tageserfolg (und seine da und dort anzutreffende Ueberlieferung fortlaufender Tageserfolge) nicht zu leugnen ist, dem aber hinsichtlich der künftigen Entwicklung mit aller Skepsis begegnet werden muß: Denn auf der passiven Bilanzseite dieser so erfolgreichen Theaterproduktion steht neben den oft unmenschlichen Härten und dem enormen Kräfteverschleiß solcher Betriebe die absolute Gefahr eines auf dem Wege der brillanten Routine sich ausbreitenden Akademismus mit all seiner schrittweisen Veräußerlichung und Lähmung der schöpferischen Prozesse.

Zur Diskussion also steht das Ensembletheater: die einzige unversiegbare Quelle des Schauspiels, die, sofern sie intakt ist, dem Höchstleistungsprinzip der jeweils auf ein einmaliges Ereignis hingearbeiteten (und zwischen Sensationserfolgen und krassem Versagen schwankenden) „Produktion" die Stabilität der künstlerischen Leistung, der stets wiederholbaren Qualität, der schöpferischen Befruchtung und der künstlerischen Ambition auf lange Sicht gegenüberstellt. An der Richtigkeit und Un- erläßlichkeit dieses Ensembleprinzips zweifelt niemand, ebenso wie (obwohl dies an den heutigen Bühnen gang und gäbe ist) kein vernünftiger Mensch die Anwesenheit außerordentlicher Persönlichkeiten in einer Starinszenierung, in der die Nebenrollen drittklassig besetzt sind, einer gepflegten, einheitlichen Ensembleinszenierung vorzieht — nur „in der Praxis", so wird man immer häufiger (und bezeichnenderweise immer häufiger in Kreisen der Theaterroutiniers) belehrt, sei dieses Ensembletheater ein sehr schönes, doch nicht mehr realisierbares Ideal.

Lieber die Gründe und Hintergründe wird in Fachkreisen seit Jahren polemisiert — und die Polemiken nehmen kein Ende (ohne daß bisher an Erkenntnissen mehr herausgekommen wäre als die Mitteilung, daß der Film das eine und die niedrigen Theatergagen das andere liebel sind). Spricht man als Anwalt des Ensembletheaters bei einem Direktor vor, dann entwirfter, nachdem er einer stattlichen Anzahl von Beteuerungen Ausdruck gegeben hat, daß das Ensemble „im Prinzip“ die einzige und letzte Rettung wäre, folgendes düsteres Bild:

Die Saison beginnt. Die Schauspieler und Regisseure kehren nach und nach aus ihren Festspielengagements an ihre Wirkungsstätte zurück. Die Stützen des Ensembles beziehungsweise jener Vertragsgemeinschaft, auf die die Bezeichnung Ensemble nur noch sehr bedingt zutrifft, begeben sich in die Direktionen, um ihre bevorstehenden Film-, Gastspiel- und Tourneeurlaube auszuhandeln, die Bejahrteren unter ihnen stimmen die Proben- und Premierentermine mit ihren während der freien Sommermonate vorbestellten Kuraufenthalten ab, und, sofern die Besetzungen schon fixiert sind, treten die ersten prominenten Blinddarmentzündungen und Mandeloperationen der Saison auf. „Ufid da soll ich planen“, seufzt der Direktor, „soll einen Spielplan zusammenstellen und dann auch womöglich einhalten, soll ein Ensemble Zusammenhalten… die Schauspieler denken nur an ihre Filmgagen und an die Möglichkeiten, mich zu erpressen und in der kurzen Zeit, in der sie zur Verfügung stehen, Hauptrollen zu erzwingen und sich von den kleinen Rollen zu drücken.“

Dazu erklären die Schauspieler nahezu übereinstimmend, daß den Direktoren alles Gerede vom Ensemble stets nur dann vom Herzen kommt, wenn sie den einen oder anderen Schauspieler brauchen: „Die Direktoren setzen uns falsch ein", heißt es einvernehmlich, „entwederpressen sie uns in die Typenschablone oder sie besetzen uns willkürlich, ohne Rücksicht auf unsere künstlerische Entwicklung, wie es eben kommt und wie es ihre Spielplanpolitik verlangt. Jenen Direktor alter Schule, der mit und für seine Schauspieler plante, gibt es nicht mehr, den heutigen Direktoren gehj es ausschließlich um den Sensationserfolg mit interessanten Stücken. Ganz selten, daß sie ein Stück einem Schauspieler zuliebe ansetzen — und wenn, dann aus sehr durchsichtigen Gründen, etwa um eine Starbesetzung zu gewinnen. Dagegen fast nie aus der Ueberlegung, daß es für die Fortentwicklung dieses oder jenes Schauspielers im Ensemble wichtig wäre, sich an dieser oder jener Rolle Zu erproben. Das wissen wir nur zu gut und deshalb haben wir kein Vertrauen mehr und kein Interesse am „Ensemble“, das aus Verschulden der Direktoren an Bedeutung für uns verloren hat. Das wissen auch die Jüngeren und Jüngsten unter uns, die sich an den Theatern künstlerisch nicht mehr betreut fühlen — und so gehen wir denn zum Film, wo wir wenigstens viel Geld verdienen. Nur der Erfolg beim Film gibt uns übrigens bei den Verhandlungen mit den Direktoren den nötigen Rückhalt, denn aus freien Stücken vertreten sie unsere Interessen nicht. Wer nicht filmt, der gilt auch in den Theaterdirektionen nichts …"

Der wahre Sachverhalt liegt zwischen diesen beiden Standpunkten: wie immer irgendwo in der Mitte zweier gegenteiliger Argumenteüber ein und dieselbe Sache. Im Streitfeld zweier Parteien also, die das gleiche wollen, sich jedoch nicht einig werden können (wobei der Schreiber dieser Zeilen für sich, ganz persönlich, die Ueberzeugung gewonnen hat, daß die Einwände der Direktoren im Hinblick auf die arrivierten Schauspieler meistenteils zutreffen, während die jüngeren, nicht Prominenten, am Beginn ihrer Entwicklung Stehenden mit ihren Klagen wider die Direktoren absolut im Recht sind).

Im allgemeinen spielen Vorurteile mit, ein aus unliebsamen Erfahrungen geschöpftes Mißtrauen und der Mangel an Bereitschaft, den ersten Schritt zu tun. Wenn sich beispielsweise ein erstrangiges Ensemble einer erstrangigen Bühne von sich aus dazu entschließen könnte, auch nur eine Saison lang auf Filmgagen, Vertragsklauseln und Rollengarantien zu verzichten, um der Direktion zu einer weitsichtigen Planung und ihrem Theater zu einem Dutzend glänzend besetzter Ensembleaufführungen zu verhelfen, wäre unendlich viel getan: Das freudige Echo im Parkett würde so ein „Experiment der Qualität und der Verläßlichkeit“ ermuntern, und so manche Direktion würde, von dem zweifellos sich einstellenden soliden Erfolg so einer Mustersaison beeindruckt, auf ihre Seitensprünge zum (ohnehin unvorhersehbaren) Tageserfolg verzichten lernen und in einer Atmosphäre der Einsatzbereitschaft und des Unterstützungswillens unter Beweis stellen können, was sie alles kann, wenn sie könnte…

Umgekehrt würde eine Direktion, die sich vonden landläufigen Argumenten ihrer „realistischen Geschäftsführung“ mitsamt jenem unheilvollen Weg des geringeren Widerstandes, der nahezu an allen Theatern begangen wird, lossagte, um ihren Schauspielern ein überzeugendes Programm einer über den Tageserfolg und den Routinebetrieb hinausreichenden Theaterarbeit vorzulegen, alsbald jenes unerläßliche Vertrauen erringen, ohne das es den vielzitierten „Ensemblegeist“ nie gegeben hat. .

Mit dem Augenblick, da die Schauspieler — und da vor allem die jüngeren (auf die es für einen in die Zukunft weisenden inneren Wiederaufbau des Theaters letztlich ankommt) — einen Theaterleiter fänden, an dessen Persönlichkeit, Konzept und guten Willen zu glauben ihnen gerechtfertigt erschiene, würde die Flucht zum Film, Fernsehen und verlockenden Gelderwerb an Schrecken mehr verlieren als so mancher praktisch denkende Direktor zu träumen wagt. Denn die natürliche Heimstatt für den Schauspieler, der einzige Ort seiner künstlerischen Reifeprozesse und die komödiantische Atmosphäre, die ihn mit dazu trieb, den Beruf des Schauspielers einem anderen vorzuziehen, war die Bühne und wird es immer bleiben — und das weiß er nur zu gut. Den neun Berichten von zehn Schauspielern, die stets versichern, daß sie die Arbeit am Theater dem Atelierbetrieb vorzieljen, darf unbedingt Glauben geschenkt werden (und bei denen dies nicht der Fall ist, nun, um die ist ja nicht so schrecklich schade).

Das alles sind Wunschgebilde, mag man einwenden — graue Theorie. Gewiß: wenn man ausschließlich die Praxis der menschlichen Schwächen in Betracht zieht. Aber letzten Endes ist ja doch nur alles Verabredungssache: das mit einem nicht allzu großen Aufwand an gegenseitigem Verständnis mit einigem guten Willen und einem Quentchen Weitblick jederzeit mögliche Einverständnis hinsichtlich einer simplen Konvention. Denn im Vordergrund der verhängnisvollen Mißverständnisse steht (und fast ist man geneigt, zu sagen: letztlich nur) der Konflikt um die kleine Rolle.

Alle Gespräche über das Ensemble münden schließlich in der Diskussion um diese große, wichtige, unendlich anspruchsvolle — und seit vielen Jahren vernachlässigte „kleine Rolle“, von der letzten Endes alles abhängt: Ohne die erstrangig besetzte Nebenrolle keine erstrangige Inszenierung, ohne die profilierte Charge kein großstädtischer Qualitätsanspruch, ohne die gediegene Episode kein Niveau der Aufführung. Die kleine Rolle legt nicht bloß dem Theateralltag das Fundament, sie ist 'schlechthin die Wurzel des Ensembles. Ein Theater, an dem kleine Rollen schlecht besetzt werden, ist ein schlechtes Theater, wie groß immer es auch sei und wieviel prominente Namen es auch immer im Vertrag haben mag. Alle wissen es, niemand, der dies verneinen könnte (auch wenn es ihm wider den Strich geht) — und so selten wird darnach gehandelt.

Die Mehrzahl der Direktoren, seit geraumer Zeit an Auseinandersetzungen mit ihren Schauspielern gewohnt, vergeben, um sich ihren „größeren Sorgen" (nämlich nicht denen der Besetzung) widmen zu können, die kleinen Rollen dorthin, wo der schwächste Widerstand zu erwarten ist: an Anfänger, die noch mit keinen großen Erfolgen auftrumpfen können und infolgedessen wehrlos sind, und an schwache Schauspieler (am liebsten an Externisten), die froh sein müssen, überhaupt zu einer Rolle zu kommen.

Und die Schauspieler? Die kennen zwar den vielzitierten Lehrsatz, demzufolge es keine schlechten Rollen, sondern nur schlechte Schauspieler gibt, seit der Theaterschule auswendig, aber ihre Bereitschaft, von dieser Weisheit Gebrauch zu machen, ist infolge der totalen Entwertung der Nebenrolle (und Umkehrung der schönen Sentenz in ihr Gegenteil) nur mehr unter Zwang anzuregen — und fast muß man sagen: begreiflich, auch wenn sie zu dein Debakel entscheidend beigetragen haben.

Zieht man nun noch in Betracht, daß die zur Konvention gewordene Identität von kleiner Rolle und kleiner Leistung nach und nach auch in der Kritik, die von den Nebenrollen kaum noch Notiz nimmt, den entsprechenden Niederschlag gefunden hat (die Rezensenten haben sich schließlich daran gewöhnt, daß es rechts und links der Hauptdarsteller wenig zu sehen gibt), wird das Verhalten der ’Schauspieler erst recht verständlich.

Diesem hinlänglich verhängnisvollen Verlust an Ansehen des Kleinrollenfachs entspricht naturgemäß die Expansion des niedrigen Niveaus von unten her: Dort, wo die kleinen Rollen unterdurchschnittlich besetzt sind, findet man in den wichtigen Rollen den Durchschnitt und in den Hauptrollen immer häufiger jene glänzenden Chargenspieler, jene ausgezeichneten Charakterepisodisten, die der Nebenrolle großstädtisches Profil verleihen könnten, indes zu schwach sind, um ein Stück zu tragen. Ihr aus der Unterwanderung ihres eigentlichen Fachs abgeleiteter Anspruch auf das Hauptrollenfach setzt das Gleichgewicht der Maßstäbe völlig außer Kraft.

So ergibt sich die paradoxe Situation, daß gerade diese „ersten Zweiten“, diese unentbehrlichen Stützen des Ensembles (und die, seit die Spitzendarsteller so unberechenbar geworden sind, vielfach als der Ensembles letzte Kraftreserven gelten) dem um seinen Bestand (und seine Daseinsberechtigung mit dem Argument der konstanten Qualität) ringenden Ensembleprinzip mehr schaden, als sie ahnen: Ihnen vermag der Direktor am wenigsten verweigern, ihre Wünsche m u ß er erfüllen — und sie drücken das Niveau der Ensembleaufführung von oben herab. Die letzten Getreuen, auf die einigermaßen Verlaß ist, untergraben, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, nach Kräften mit.

Ob sich diese unglückselige Inflation der Schauspielkunst zum Besseren ändern ließe? Das Gleichgewicht der Maßstäbe, das Ansehen der kleinen Rolle, die Zusammenarbeit und das Vertrauen wiederherstellen ließe? Es besteht kein Grund, dies zu verneinen. An der repräsentativsten Bühne unseres Landes zeichnet sich in jüngster Zeit einiges Bemerkenswerte' in dieser Richtung ab, und eine Reihe erstrangiger, zum Teil großer Schauspieler hat es, zu solid besetz- ’ten Ensembleaufführungen aufgerufen, an Einsatzfreudigkeit nicht fehlen lassen. Aber ein „hinkender Both"macht noch keinen Sommer.

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