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Interpretation und Wiedergabe

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Das Gedächtniskonzert zum 50. Todestag von Johannes Brahms unter Hans Knapperts-busch und das Auftreten der französischen Geigerin Ginette Neveu in diesem und in zwei eigenen Konzerten geben Anlaß, uns mit der Frage der Wiedergabe und der Interpretation des musikalischen Kunstwerks zu befassen. Allein schon die Tatsache, daß nach diesen Veranstaltungen viel mehr von den reproduzierenden Künstlern (und unter diese zählt auch der Dirigent) gesprochen und geschrieben wurde als von den erhabenen Werken des großen Meisters, dessen Gedächtnis das Konzert gewidmet war, zeigt das Übel an seiner Wurzel. Welcher Musikfreund wäre nicht dankbar, im musikalischen Alltag einer bedeutenden, kraftvollen Künstlerpersönlichkeit oder einem Dirigenten zu begegnen, welcher ein Meisterorchester wie die Philharmoniker zu höchsten Leistungen anspornt? Welches aber ist die große, die einzig würdige Aufgabe des reproduzierenden Musikers? Hören wir einen zeitgenössischen Komponisten, dem niemand nachsagen wird, daß er von der Materie nichts versteht oder daß er akademischer Doktrin huldigt. In seinen Lebenserinnerungen („Chroniques de ma vie“, Paris 1935), einem sehr lesenswerten, klugen und aufschlußreichen Buch, schreibt Igor Strawinsky: „Die Musik soll übermittelt und nicht interpretiert werden, denn wenn die Interpretation mehr die Persönlichkeit des Interpreten als die des Autors zur Geltung bringt — wer kann uns in diesem Falle garantieren, daß der Ausführende das Werk wiedergibt, ohne seine Vorstellung der des Schöpfers überzuordnen? Der Wert des Ausführenden ist genau nach seiner Fähigkeit zu bemessen, mit welcher er erkennt, was sich tatsächlich in der Partitur befindet — und sicherlich nicht in seinem Bestreben, darin etwas zu suchen, von dem er wünscht, daß es sich darin befände.“

Der konkrete Anlaß zu diesen Betrachtungen sind die berühmten Tempi von Knappertsbusch, welche bekanntlich manchmal fast doppelt so breit sind, als der Komponist sie vorgeschrieben h“ Wir wollen nicht kleinlich sein und deiii i . ;oduzierenden Künstler gerne zugestehen, daß er im Schwünge schöner Begeisterung einmal stürmischer wird, als es die Vortragszeiten vorschreiben oder eine pathetische Stelle übermäßig breit nimmt. Aber diese konsequenten, systematischen Tempoänderungen, wie sie Knappertsbusch vornimmt, sind kaum mehr zu rechtfertigen, da sie nicht nur das Wesen und den Charakter der einzelnen Sätze (Variationen über ein Thema von Josef Haydn) verfälschen, sondern dem Werk durch fast vollständigen Ausgleich der Kontraste viel von seiner Gesamtwirkung rauben. Niemand möge das „Klappern des Metronoms“ gegen den „Ausdruck einer Persönlichkeit“ ausspielen. Die Persönlichkeit nämlich, auf die es in erster Linie ankommt, ist die des Komponisten. Und dieser wußte genau, weshalb er Vivace oder Presto non troppo schrieb — und nicht Andantino. Es geht hier nicht in erster Linie um das „äußere“ Metronomtempo, sondern um jenes innere Zeitmaß, welches jedem Satz eigen, wesensgemäß ist und welches sich freilich beim Singen oder Spielen einer Melodie eher erschließt, als beim einmaligen Hören oder gar Lesen einer Partitur.

Ginette Neveu spielte den Geigenpart des Violinkonzerts D-Dur. Dies war ihre beste Leistung in dfr Reihe von Konzerten, die wir seit dem vergangenen Jahr von ihr hören durften. Im Zusammenspiel mit dem Orchester und durch die schwierige musikalische Materie werden ihren genialen Willkürlichkeiten gewisse Grenzen gesetzt. Spielt sie allein (die Begleitung auf dem Klavier zählt in diesem Falle nicht), so spielt sie vor allem sich selbst. Auch bei Bach, auch bei Mozart. Am deutlichsten und überzeugendsten zeigen sich ihre Fähigkeiten, wenn sie musikalisch schwächere Werke durch die farbige Pracht ihres Tons, durch den mitreißenden Schwung ihres, Temperaments gleichsam über sich hinausträgt. (E., pibt auch unter den Komponisten schwächere Persönlichkeiten als zum Beispiel die der französischen Meistergeigerin.) Man könnte den Widerstreit der Meinungen um das Spiel dieser Künstlerin annähernd auch mit der alten Formel von apollinischer und dionysischer, naiver und sentimentalischer Kunst umschreiben. Doch scheint es sich hier, sowohl bei der Interpretin, als auch bei ihren Bewunderern, mehr um ein psychologisches Problem zu handeln.

Diesen glanzvollen Veranstaltungen im großen Rahmen seien zur Verdeutlichung zwei bescheidene Solistenkonzerte gegenübergestellt, in welchen zwei ausgezeichnete Musiker auf ihre Art Persönlichkeit und Kunstgesinnung dokumentierten. Wir meinen die beiden Konzerte von Friedrich Wildgans (Klarinette) und Robert Wallenborn (Klavier). Beide vollkommene Meister ihres Instruments — ich kenne keinen besseren Klarinettisten, auch in Frankreich nicht, und in Wien keinen saubereren Pianisten — und

Musiker von Geschmack und Format. Das bewiesen — neben der Wiedergabe schwierigster Werke verschiedener Stile — auch ihre Programme. Wallenborn spielte Bach, Mozart, Schumann und eine Reihe zeitgenössischer Werke; Wildgans hat seinen Abend fast ausschließlich neueren und selten gehörten Kompositionen gewidmet. Beider Kunst und Können stand durchaus im Dienste der dargebotenen Werke. Darin zeigt sich auch eine Künstlerpersönlichkeit. Als Komponist, der sein Werk vor allem so zu hören wünscht, wie es konzipiert wurde, würde ich — vor die Wahl gestellt, ob Interpretation oder Wiedergabe — keinen Augenblick zögern, wem ich meine Komposition anvertraue.

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