
Künstlerische Gegenwelten
In diesen Tagen gehen die ersten Festwochen unter der neuen Intendanz von Christophe Slagmuylder zu Ende. Die FURCHE zieht nach fünf ereignisreichen Wochen Bilanz.
In diesen Tagen gehen die ersten Festwochen unter der neuen Intendanz von Christophe Slagmuylder zu Ende. Die FURCHE zieht nach fünf ereignisreichen Wochen Bilanz.
Nach dem vorzeitigen Ausscheiden des erfolglosen Tomas Zierhofer-Kin sprang der belgische Kurator und Kulturmanager Christophe Slagmuylder im Juni 2018 kurzfristig ein. Damit stand ihm nur ein knappes Jahr zur Verfügung, um die durch Zierhofer-Kin in die Krise geratenen Festwochen neu aufzustellen.
Slagmuylder hat vieles richtig gemacht. Denn es gelang ihm einerseits der Spagat zwischen bewährtem Festwochen-Kurs, also Publikumserwartungen zu erfüllen und hochkarätige internationale Produktionen nach Wien zu bringen, und gleichzeitig Theater zu präsentieren, das die Konfliktlinien und Brennpunkte unserer Welt widerspiegelt, also über sich hinausweist und eine dezidiert gesellschaftspolitische Agenda verfolgt.
Zugleich war der Neo-Intendant bestrebt, jene Entwicklung voranzutreiben, die die Stadt mit der Berufung Zierhofer-Kins intendiert hatte, nämlich das Festival breiter in der Stadt zu verankern und mit niederschwelligen Spielorten – auch in den Außenbezirken – neues, jüngeres Publikum zu gewinnen. Vor allem die Donaustadt wurde heuer vielseitig bespielt. Neben der zwar spektakulären, aber inhaltlich doch recht bescheidenen Eröffnungspremiere „Diamante“ – ein fast sechsstündiger Theatermarathon über den Niedergang einer Stadt – ging Slagmuylder mit neuen Formaten an Orte, die bereits mit Kultur und Wissen „besetzt“ sind. So konnte man etwa die Lese-Performance „Time has fallen asleep in the afternoon sunshine“ der Norwegerin Mette Edvardsen sowohl in der „Erste Bank Arena“ im 22. Bezirk als auch in der Hauptbücherei besuchen. Und auch die eindrückliche Tanz-Performance „Corbeaux“ aus Marrakesch konnte an mehreren gut gewählten Spielorten kostenfrei gesehen werden. Ob es so allerdings gelingt, ein aus vielen Gründen eher kunstfernes Publikum nachhaltig zu erreichen, wird die Zukunft weisen.
Publikumslieblinge
Wie erwähnt „bediente“ Slagmuylder auch Sehgewohnheiten und Erwartungen des langjährigen, treuen Festwochen-Publikums: Für hohe Auslastung sorgten etwa Robert Wilsons „Mary Said What She Said“ mit der famosen Isabelle Huppert. Der Monolog der weltberühmten Filmschauspielerin in der Regie eines ebenso weltberühmten Meisterregisseurs mit Avantgardenimbus zählte schon im Vorfeld zu den am stärksten nachgefragten Abenden. Ähnlich ist die Einladung von Anne Teresa De Keersmaeker zu werten. Ihre Choreografie von Bachs „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ war unmittelbar nach der Veröffentlichung des Programms ausverkauft. Mit der Kombination Bach/De Keersmaeker und ihrer Kompagnie „Rosas“ kann man nur gewinnen. Obwohl künstlerisch fraglos gerechtfertigt, stellt sich hier allenfalls die Frage, wohin sich die Festwochen entwickeln, denn eigentlich würde man die Produktion eher im Programm des sommerlichen „ImPulsTanz“-Festivals erwarten. Dieselbe Frage lässt sich auch bezüglich der brasilianischen Tanz-Performance „Fúria“ der international viel beachteten Choreografin Lia Rodrigues stellen. Allerdings rechtfertigt die politische Brisanz der Produktion die Einladung. „Fúria“ bedeutet Hetze, aber auch Wut. Lia Rodrigues, die unter anderem auch eine Tanzschule in einer der größten Favelas nördlich von Rio de Janeiro leitet, thematisiert darin die faschistische Politik des 2018 gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Rodrigues’ künstlerisches Statement bietet Gegenwelten an, „Fúria“ versteht sich als Plädoyer für Solidarität und Selbstermächtigung. Rodrigues’ Performance setzt bei der Kraft und Schwäche der menschlichen Physis an. Während sich Bolsonaro wie ein Gotterlöser feiern lässt, werden Menschen in seinem Auftrag systematisch vergewaltigt, ermordet und gefoltert. In ihrer Arbeit verbindet die Choreografin Kunst und soziale Prozesse, am Ende träumt ein schwarzer Akteur (in Brasilien auf vielfache Weise diskriminiert) von der EU als einem der größten Friedensprojekte.
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