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Kultbuch über den Zirkus

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Es gab eine Zeit, da war der Zirkus alles mögliche, doch echter Zirkus bestenfalls noch nebenbei. Showelemente überwucherten die Grundelemente des Circensi-schen: Artistik und Tiere. Trotzdem ging ein Zirkus nach dem anderen zugrunde, bis nur noch ganz wenige übrigblieben. Denn der Zirkus war in eine mörderische Schere geraten. Einerseits verlor er in rasantem Tempo sein Publikum an Fernsehen und Kino. Zugleich stiegen, nicht weniger rasant, die Kosten. Selbst ein täglich ausverkauftes Zelt - und welches Zelt war schon täglich ausverkauft- konnte mit seinen paarhundert Plätzen nicht mehr die steigenden Kosten kleinerer Unternehmen, steigende Lohnkosten fürs stehende Personal, steigende Künstlergagen, Futterkosten, Transportkosten, Platzmieten und so weiter einspielen.

Was übrigblieb, waren zwei Marktnischen. Eine winzige für die armen kleinen Zirkusse, die ihr Angebot ihren finanziellen Möglichkeiten anpaßten und sich so bis heute durchfretten. Der Wiener Zirkusfachmann Gerhard Eberstaller schätzt, daß im deutschen Sprachraum von hunderten immerhin noch mehrere Dutzend übriggeblieben sind. Auch der Zirkus Belli, mit dem der fünfjährige Bernhard Paul einst durchbrennen wollte, tingelt noch durch die Lande.

Die andere Nische besetzen wenige international agierende Zirkusse mit großer Ausstrahlung und Programmen, die so anspruchsvoll sind, daß sie gegen das Fernsehen bestehen können. Hier läßt sich nach wie vor Geld verdienen, und zwar, wie überhaupt für die Erfolgreichen des Medien-, Kunst- und Kulturmarktes, sehr viel Geld.

Einer der erfolgreichsten Zirkusse, in Deutschland neben dem Zirkus Krone sicher der erfolgreichste, heißt bekanntlich Roncalli. Vor 20 Jahren mit großem Ehrgeiz von oberwähn-tem Bernhard Paul in Wien gegründet, wenig später total pleite, ist er heute in Deutschland und Osterreich der Zirkus eines anspruchsvollen, dabei aber gar nicht kleinen Publikums, das den klassischen Zirkus auf höchstem Niveau liebt. Bernhard Paul hat das Versprechen, das er mit fünf Jahren gab, als ihn sein Vater aus dem Belli-Wohnwagen herausholte, gehalten: „Ich komme wieder!”

Nun erschien über den Kultzirkus ein wunderschönes Buch, das gute

Chancen hat, ein Kultbuch in der Marktnische der Zirkusliteratur zu werden: „Circus Roncalli - Geschichte einer Legende”. Klar: Ein Zirkus, der auf sich hält, ist kein Zirkus, sondern ein Circus. Wie ja auch der Credit vornehmer ist als der Kredit und die Creativität vornehmer als die Kreativität. Eine gewisse Hochgestochenheit gehört (Andre-Heller-Erbe?) zweifellos zu den Markenzeichen des Circus Roncalli. Aber sein eigentliches Erfolgsgeheimnis ist die wohl abgewogene Mischung von üppigem Einfallsreichtum, strenger Selektion (der erstbeste Einfall ist Bernhard Paul niemals gut genug) und Liebe zum Detail bei der Verwirklichung der Einfälle. Nach dem schon vor langem in den USA erfundenen öden Verschnitt des klassischen Zirkus mit der Show gelang Bernhard Paul in seinem Cirkus Roncalli jene Weiterentwicklung, der man die besten Zukunftschancen bescheinigen darf: Der Zirkus mit literarischem Touch, oder, wenn man so will, der Zirkus mit Dramaturgie. Wo man anderswo einfach eine Zirkusnummer sieht, erzählt Roncalli eine kleine Geschichte. Bernhard Paul, der sich „schon in der Kindheit mit dem Zirkus-Virus infizierte”, entwickelte - anfangs nicht ohne Phantasie-Subvention von Andre Heller - eine eigenständige Dramaturgie. Ihr Kennzeichen ist eine Aufeinanderfolge von Span-nungsbögen, vieler kleiner Span-nungsbögen, die nie überdehnt werden und oft blitzschnell wechseln. Tempo und Abwechslungsreichtum gehören zu den wichtigsten Tricks, doch ohne Bernhard Pauls Liebe zum Detail wäre Roncalli nicht Roncalli.

Das Roncalli-Buch erschien zum zwanzigjährigen Bestehen des Circus Roncalli. Es besteht aus drei Teilen. Eingeleitet wird es mit einer „Ahnengalerie”, sprich: einer von Ernst Günther geschriebenen Geschichte des Zirkus, ganz im Sinne des Bekenntnisses zum klassischen Zirkus, das Bernhard Paul bereits bei der Roncalli-Gründung abgab und das den Rezensenten schon damals sehr freute. Der zweite Teil stammt vom dem Zirkus verfallenen Wiener Steuerberater Gerhard Eberstaller, der ein bemerkenswertes Zirkusarchiv zusammentrug, der dritte von Petra Plu-watsch.

Sie schildern aus verschiedenen Gesichtswinkeln die Roncalli-Story und den Aufstieg Pauls.

Wir lernen einen Zirkusbegeisterten, ja vom Zirkus Besessenen kennen.

Einen, der dem Zirkus nicht nur I. neue,' hier I darf man das abgebrauch te Wort wirklich gebrauchen: in Ijf die Zukunft weisende

Impulse gab. Sondern einen, der den Antrieb dafür aus seiner Liebe zum alten, klassischen Zirkus bezog. Neues erfinden, das Alte bewahren, diese Tendenzen bilden bei Bernhard Paul eine Einheit. In seinen schwersten Jahren hat letzteres seine Lage noch erschwert. Denn seine Liebe drückt sich auch in einer ausgeprägten Sammelwut aus. Hoch verschuldet kaufte er Archivalien, historische Zirkusre-” quisiten und mit besonderer Begeisterung, denn was wäre der alte Zirkus ohne sie, alte Zirkuswagen.

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