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Liebe, Treue und Traumreise

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Halbzeit bei den Salzburger Festspielen - und zwei der wichtigsten Premieren, die die Spannbreite stilistischer Möglichkeiten des Festivals zeigen sollten: Herbert Wernicke, in Salzburg mit „Boris Godunow" besonders erfolgreich, inszenierte im Großen Festspielhaus Beethovens „Fidelio", Christoph Marthaler, der Schweizer, der zu den Kultregisseuren der deutschen Theaterszene wurde, eine Musiktheaterproduktion aus Arnold Schönbergs Zyklus „Pierrot lunaire" und Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps". Und Sir Georg Solti, 83, der Doyen der internationalen Dirigentenstars, feierte mit „Fidelio" seinen Abschied von den Festspielen. Doch für Solti heißt das keineswegs, daß er Beethoven so interpretiert wie in den vergangenen Zeiten: „Ich habe meine alten Partituren voll von Notizen be-seitegelegt, um den Blick nicht durch Musiziergewohnheiten zu trüben", meinte er kürzlich in einem Gespräch. Der Querdenker bemühte sich für Salzburg auch um eine neue „Fidelio" -Sicht. Vor allem streicht er die 3. Leo-noren-Ouvertüre vor dem zweiten Akt: Statt in der Schönheit dieses ausladend breiten symphonischen Kommentars zu schwelgen, öffnet er sofort den Kerker Florestans; Leonores Kampf auf lieben und Tod gegen Feind Pizarro erscheint im grellen Scheinwerferspot.

Solti dirigierte den ersten Akt etwas zaghaft weich, ohne scharfe Konturen, den zweiten straffte er aber bemerkenswert. Leonores Kampf um das Leben des Eingekerkerten wird ins Heldenhafte eines Festspiels gesteigert. Im Finale streift Solti endgültig alles Opernhafte ab: Solisten und Chor tre-

ten, in Straßenkleidung, wie in einem Oratorium an die Bampe beziehungsweise an die Notenpulte, die der Pförtner Jaquino aufgestellt hat. Ein Parteitagsfinale, bei dem alle den Hymnus auf Liebe, Treue, Brüderlichkeit und Freiheit in die Welt hinausrufen. Solti, die Wiener Philharmoniker und der Staatsopernchor entfalten dabei üppigste Klangpracht und hymnisches Leuchten. Begisseur und Ausstatter Wernicke entwarf dafür allerdings ein häßliches, schwarzes Einheitsbühnenbild, einen schwarzen Trichter mit perforierten Metallwänden. Die Szenen versumpfen da in Finsternis. Von Anfang an ist hier alles em schwarzer Kerker, in dem die Protagonisten und der Chor sich in künstlicher Aufgeregtheit bewegen. Die Besetzung erfüllt nicht ganz die Ansprüche des Werkes: Cheryl Studer gestaltet

die Leonore steif und verkrampft; immer wieder brilliert sie mit wunderbar warm getönten lyrischen Momenten, kämpft aber mitunter mit den extrem schwierigen Koloraturen ihrer Arie „Abscheulicher, wo eilst du hin?". Ben Hepner singt den Florestan mühelos mit imponierender Kraft und Tenorglanz. Bene Pape ist ein sehr junger, eindrucksvoller Kerkermeister Bocco, Tom Fox ein unprofilierter Pizarro ohne Stimmgewalt, Peter Matteis' Minister ein biederer Staatsbeamter, Buth Ziesak und Boberto Saccä sind ein sympathisches Paar.

Dem gebremsten Mut Wernickes stellte Christoph Marthaler mit seinem „Pierrot lunaire" im Szene-Haus eine Inszenierung voll Überzeichnungen und Momenten einer grellen Farce entgegen. Wer etwa Marthalers „Stunde null" bei den Wiener Fest-

wochen gesehen hat, wird hier das gleiche Begieprinzip entdecken. Marthaler schöpft aus dem gleichen Fundus der Einfälle: Erneut ein vergammelter Bühnenraum (Anne Vie-brock) mit Besopalplattenverklei-dung, erneut die miefige Bürostubenatmosphäre mit desolatem Mobiliar. Doch zeigte er in der „Stunde null" einen neuen Anfang, Deutschlands Wirtschaftswunderwelt der Fünfziger, so läßt er im „Pierrot" seine Schauspieler ein Endspiel vorzeigen. Beckettsche Endzeitstimmung! In einem schäbigen Fauteuil kauert Pierrot, der bleiche Dandy. Er träumt sich in Albert Girauds Poesie: „Der Mondstrahl ist das Ruder, Seerose dient als Boot: Drauf fährt Pierrot gen Süden ... Nach Bergamo, zur Heimat..." Er zieht seinen schäbigen Anzug aus - in seinem weißen Pierrotgewand gleitet er „hinüber", während andere Pierrots auf einer alten Postwaage, auf einem Zuckerlautomaten, einer Kühlvitrine und einem Büroschreibtisch als Totenvögel hocken. Zu Messiaens Quartett stellen sie sich dann vor der Waage an, sie werden gewogen „fürs Ende der Zeit". Marthalers Inszenierung ist voll von Mutwilligkeiten, von Pointen und Anspielungen, aber aus einem Guß. Vor allem Graham F. Va-lentine als Pierrot schnarrt, säuselt, wimmert und röhrt die Texte Girauds präzise: Eine Zerstörungsaktion romantischer Poesie, wie Schönberg sie wünschte. Die Schauspieler Susanne Düllmann, Martin Horn, Ueli Jäggi und Klaus Mertens sind schrille Assistenten dieser Taumreise. Das Klangforum Wien unter Mathis Dulack entfaltete hier und in Messiaens monumentalem Quartett mit wunderbarer Perfektion und idealer Klangfarbenkunst.

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