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Mauerblümchen Ballett

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Das erfolgreiche Gastspiel des American Ballet Theatre in der Volksoper mit acht Vorstellungen innerhalb einer Woche, der ungewöhnliche Beifall, den Werner Egks „Abraxas“ im Theater an der Wien erhielt, und schließlich das erstmalige Gastspiel des Pariser Opernballetts bei den Salzburger Festspielen scheinen uns der richtige Anlaß, auf diese bei uns so stiefmütterlich behandelte Gattung hinzuweisen, die im Repertoire der Oper während der letzten Jahre die Existenz eines Mauerblümchens führte. Knapp vor dem .Ende der Spielzeit kam das Wi?ner Staatsopernballett mit seinem ersten und einzigen Premierenprogram heraus, das -nur noch dreimal gezeigt,...werden konnte — und hatte einen gewaltigen Erfolg. Wir hoffen daher nicht, nur, daß dieses Programm in der neuen Spielzeit bald und oft zu' sehen sein wird, sondern daß man auch zu weiteren Taten Mut findet.

Wer Einblick in die geistige Verfassung des heutigen Publikums besitzt und die Situation der Schaffenden kennt, wird leicht einige Gründe dafür finden, warum das Ballett gegenwärtig in der Welt fast gleichberechtigt neben Oper und Sprechstück rangiert. Nicht nur, daß die zeitgenössische Oper zwischen epischem Theater, musikantischer Nummernoper und Musikdrama (natürlich nicht im Wagnerschen Sinn) laviert. Vor allem muß die Klippe des Textbuches überwunden werden. Die höheren Ansprüche, die heute daran gestellt werden, könnten zwar von vielen zeitgenössischen Schriftstellern erfüllt werden.

Aber das Sujet bringt den Librettisten — und mit ihm den Musiker — nur allzu leicht zwischen das Räderwerk der weltanschaulichen oder gar politischen Meinungsfabriken. Und fürchtet man diese nicht oder weiß man ihnen aus dem Weg zu gehen, so vermeidet man doch lieber die allzudeutliche Formulierung dessen, was man meint, in einer Zeit, der eine solche der mißbräuchlichen Verwendung des Wortes, auch in der Kunst, vorausgegangen ist. Zwar kommt

— jedenfalls in der Mehrzahl jener großen zeitgenössischen Ballette, die wir im Auge haben

— auch der Choreograph nicht um das „Libretto“ herum. Aber es ist eben eine freiere Stoffgestaltung, was den Inhalt, und eine ungleich strengere, was die Form betrifft —, wenn wir das Szenarium der Tanzschöpfung mit dem Textbuch einer Oper vergleichen. Zur gestalteten, übersichtlichen, regelgebundenen Form aber tendiert nun einmal unsere Zeit. Jedenfalls bekennen sich die bedeutendsten unter den Produktiven dazu. Und man braucht kein Gegner des Ausdruckstanzes zu sein, um zu erkennen, daß die Renaissance des klassischen Balletts hier eine ihrer Wurzeln hat.

Ebensowenig darf geleugnet werden, daß die großen Ballette, wie sie gegenwärtig in Frankreich, in Deutschland, in England und in Amerika geschaffen werden und wahre Triumphe feiern, ohne die Anregung und Bereicherung durch den Ausdruckstanz nicht zustande gekommen wären. Der erfolgreichste deutsche Ballettkomponist Werner Egk, der zugleich auch einer der aufmerksamsten

Beobachter und besten Kenner der Materie ist, befürwortet diese Synthese und scheut sich nicht, auf die im Werden begriffene neue deutsche Ballettkunst den Terminus „Gesamtkunstwerk“ anzuwenden, freilich im Sinne einer Verbindung der Künste, nicht aber ihrer Vermischung. („Abraxas“ ist vielleicht das beste Beispiel dieser Gattung.)

Die gültigsten Lösungen auf dem Gebiet des „Ballet blanc“ scheint bisher George Balanchine gefunden zu haben. Er kam als Zwanzigjähriger in die Schule Diaghilews und erlebte in Paris das „heroische Zeitalter“ des russischen Balletts, das die Grenzen der klassischen Formen zwar sehr erweiterte, aber nirgends sprengte. Nach dem Tode Diaghilews (1929) war Balanchine in Kopenhagen, London und Monte Carlo, wo er eine eigene Truppe gründete. Seit 1933 ist er in Amerika und leitet die „School of American Ballet“ in New Tork. Seinem Stil wird nachgerühmt: Objektivierung und weitestgehende Stilisierung, Betonung der formalen Elemente und präzise Verdeutlichung jedes musikalischen Details, eine fast antiseptische Sauberkeit, was den Inhalt und die Aussage der einzelnen Stücke betrifft, und strikteste Beobachtung der klassischen Regeln. Vor Abstraktion und Sterilität, Akademismus und „Formalismus“ bewahrt ihn sein persönlicher elan vitale, in Amerika vielleicht auch zusätzlich jener aus Humor und Kraft zusammengesetzte Dynamis-mus, der der Kindlichkeit näher ist als der Vergreisung. Als Glanzstücke werden gerühmt: Stra-winskys „Orpheus“ und „Jeu de cartes“, ein „Concerto baroeco“ nach Bachs Doppelviolinkonzert und „Die vier Temperamente“ von Hindemith.

Nur das letzte der genannten Werke war bisher bei uns zu sehen. Aber wichtiger wäre, daß durch solche Leistungen auch unsere eigenen Choreographen Impulse erhalten, und daß man einsieht, daß sehr wesentliche Synthesen heute gerade auf dem Gebiete des Balletts geleistet werden. Dies vor allem verpflichtet, ihm einen breiteren Raum im Spielplan der Oper zu gewähren, damit man während der nächsten Salzburger Festspiele von 1954 vielleicht mit dem eigenen Ensemble vor die Weltöffentlichkeit treten kann. Auch das elastische Programm der Wiener Festwochen könnte durch unsere Tanzgruppen nicht nur erweitert, sondern auch wesentlich bereichert werden.

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