Menschenleben verhandeln?

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"Was bedeutet direkte Rechtsprechung durch die Bevölkerung, welche Risiken sind mit einer direkten Demokratie verbunden?"

"In den Kammerspielen endete die Premiere mit Freispruch, ebenso spätere Vorstellungen. Frappant anders präsentieren sich die Ergebnisse vor einem Fachpublikum."

Schuldig?

Sechs Vorstellungen gab es bisher in den Kammerspielen, sechsmal endeten sie mit "Freispruch". Auch die Kammerspiele tragen ihre Ergebnisse hier ein: terror.theater.

Als vielbeachtetes Medienereignis verkauft sich Ferdinand von Schirachs Stück "Terror" bestens. Es wurde 2016 verfilmt und gleichzeitig in der Schweiz, in Deutschland sowie in Österreich ausgestrahlt. Vor wenigen Wochen erhielt Schirach dafür den renommierten Prix D'Or.

In Wien ist "Terror" seit 23. November in den Kammerspielen der Josefstadt zu sehen. Regisseur Julian Pölsler hat alle Rollen weiblich besetzt, im Hintergrund thront Justitia mit Richtschwert und Gesetzbuch. Die Bühne wird zum Gerichtssaal. Bei der Eröffnung der Verhandlung erklärt Julia Stemberger als vorsitzende Richterin das Publikum zu Geschworenen. Sie sind verpflichtet, am Ende ihr Urteil abzugeben. Dieses wird durch Mehrheitsentscheid gefällt.

Publikum klar für Freispruch

Schirach hat zwei alternative Enden vorbereitet, dem jeweiligen Schöffenurteil folgend. Die Premiere in den Kammerspielen endete mit Freispruch, ebenso spätere Vorstellungen. Nach der Erstausstrahlung der Verfilmung entschieden sich weit über 80% der Zuseher ebenfalls für Freispruch, und das in allen drei Ländern. Frappant anders präsentieren sich die Ergebnisse vor einem Fachpublikum, und damit sind nicht nur Juristen gemeint, sondern auch Soziologen und Kulturwissenschaftler. Im Landesgericht Linz etwa endete die Vorstellung mit einem "verurteilt", und auch das Ergebnis nach der jüngst in Wien von der Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner und der Mediensoziologin Eva Flicker ausgerichteten Tagung "Terror -Ihr Urteil -Dimensionen eines Medienereignisses" endete mit 70% für schuldig.

Was bedeutet also direkte Rechtsprechung durch die Bevölkerung, welche Risiken sind mit einer direkten Demokratie verbunden? Der Schauspieler Burghart Klaußner (der in der Verfilmung den vorsitzenden Richter verkörpert) betont in einem Interview das didaktische Moment: "Wie die Aufführungen zeigen, ist ein geradezu wohltuender Hauptaspekt des Stückes die Diskussion der Zuschauer untereinander. Das ist gelebte Demokratie, jenseits von Pöbelei und Hass." Deutlich kritischer beurteilt der deutsche Autor und Strafverteidiger Schirach den Ruf nach direkter Demokratie und den Diskurs rund um den Modebegriff "Schwarmintelligenz". Er weist vielmehr auf die Gefahren und die Macht der sozialen Medien hin. Möchte man seinen Aussagen Glauben schenken, dann sollte "Terror" diese desavouieren, aufklärerisch wirken und zeigen, wie die mediale Berichterstattung und die Bilder der in die Twin Towers einschlagenden Flugzeuge vom 11. September 2001 unser Denken steuern. Sie sind geradezu Ikonen unserer Zeit. Doch Schirachs polemischer Zugriff geht ins Leere.

"Terror" bewegt sich im Spannungsfeld von Recht und Moralethik. Schirach schildert das Dilemma des deutschen Kampfpiloten Lars Koch. Dieser ist angeklagt, 164 Menschen getötet zu haben. Sie waren Passagiere eines von einem Terroristen entführten Flugzeugs, das über dem mit 70.000 Personen besetzten Münchner Olympiastadion zum Absturz gebracht werden sollte. Gegen den Befehl des Verteidigungsministeriums schoss Lars Koch das Flugzeug ab. Nach der Aussage der Zeugen und der Nebenklägerin, den Plädoyers der Staatsanwältin sowie des Verteidigers sind die Zuschauer aufgerufen, ihr Urteil in den Pausenfoyers abzugeben.

Das Theater wird hier zum Versuchslabor erklärt, in dem die verschiedenen Haltungen buchstäblich durchgespielt werden. Die Bühne wird zu einem Forum, auf dem die Res publica, die öffentliche Sache, verhandelt wird. Schirach bedient sich dabei eines Gedankenexperimentes, dem sogenannten Trolley-Problem, das auch unter dem Begriff "Weichensteller-Beispiel" bekannt ist. Dabei lautet die Frage: Darf ein Weichensteller, um einen drohenden Zusammenstoß zu verhindern, der aller Voraussicht nach viele Personen töten wird, den Zug so umleiteten, dass zwar auch Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden, aber sehr viel weniger, als wenn er den Dingen ihren Lauf ließe?

Leben nicht quantifizierbar

Sowohl nach österreichischem als auch deutschem Recht ist menschliches Leben nicht quantifizierbar. Kein Menschenleben lässt sich gegen ein anderes aufwiegen. Sowohl in seinem polemischen Essay "Die Würde des Menschen ist antastbar" als auch in der Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2017 thematisiert Schirach die Gefahren des absoluten Volkswillens und stellt Mehrheitsentscheidungen entschieden in Frage. "Was tun, wenn die Demokraten einen Tyrannen wählen? Wir, die Bürger der westlichen Demokratien, müssen uns fragen, ob und in welchem Umfang wir wollen, dass in Reaktion auf terroristische Bedrohungen Gesetze verschärft werden und Geheimdienste mehr Macht bekommen. Wir müssen uns also darüber klar werden, was passiert, wenn wir bei der Bekämpfung rechtsstaatliche Prinzipien aufweichen oder missachten." Die weitverbreitete Annahme, dass eine demokratische Mehrheit über alles bestimmen kann, stößt bei Minderheitenrechten an ihre Grenzen. Denn es gibt Bereiche, die nicht verhandelbar sind.

Ob Schirach mit "Terror" sein Anliegen erreicht, lässt sich bezweifeln. Als Julia Stemberger in den Kammerspielen am Ende "Freispruch" verkündet, springen die meisten Zuseher auf und applaudieren. Selten sieht man im Theater ein derart hohes Maß an Identifikation. Der Großteil wähnt sich im Gefühl und Glauben, Recht zu haben und über Gerechtigkeit mitbestimmen zu können. Die Interaktion gibt den Zusehern/Bürgern das Gefühl, das Rad der Geschichte zurückdrehen, Flugzeugattentate ungeschehen machen zu können.

Schirach holt die Zuschauer aus ihrer vermeintlichen Ohnmacht, ihre Stimme zählt, hat Gewicht, sie können unmittelbar mitbestimmen und gestalten, sich mit dem Piloten verbünden, der sich gegen ein abstraktes Recht, gegen Prinzipien stellt, sich selbst ermächtigt, über das Leben von 164 Menschen zu bestimmen. Dass sie nicht nur Zahlen, sondern Menschen sind, darauf verweist das Ende der Inszenierung, wenn 164 Namen samt Lebensdaten gleichsam als Nachspann auf die Bühnenwand projiziert werden.

Problematisch

Das Problem des Stücks und seiner Verfilmung liegt vor allem darin, dass es keine reflektierende Ebene gibt. Schirach aktiviert das Bedürfnis, in die Politik einzugreifen, Terrorattentate zu stoppen, Verfassung und Rechtsstaat in Frage zu stellen. Das Bedürfnis der Zuseher nach Mitbestimmung wird nicht in Frage gestellt, sondern bestärkt. Schirach hebt die Zuschauer in der Fiktion aus ihrer passiven Rolle, führt sie jedoch nicht zurück in die Wirklichkeit. Er versäumt den Moment der Distanzierung zur theatralen Verhandlung. Elisabeth Holzleithner sieht das Problem von "Terror" im Kontext einer langen Tradition der Glorifizierung von Selbstjustiz, abtrünnigen Staatsorganen sowie fragwürdigen Helden in der Populärkultur. Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstjustiz und legitimem Widerstand gegen die Staatsgewalt aus Gewissensgründen? Weil diese Frage wohl nie zu klären sein wird, verbleibt die eindeutige Rechtslage: Menschenleben können nicht mit Menschenleben aufgewogen werden.

Terror Kammerspiele der Josefstadt -18., 28., 29. Dez.

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