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Nestroy, der Wiener, der Österreicher

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Vor dreißig Jahren, Leipzig 1932, erschien die erste Nestroy-Monographie: „Johann Neitroy, Abschätzer der Menschen, Magier des Wortes“. 1962 legt nun ihr Verfasser diesen Band vor. In die Neufassung ist nicht nur eingegangen, was seither über Nestroy gearbeitet und geschrieben wurde, sondern mehr: eine innere Rekapitulation der Geschichte Österreichs und des so überaus schwierigen Weltwesent Wien in der Lebenszeit des Johann Nestroy (1801 bis 1862). Otto Forst de Battaglia, Altösterreicher, Alteuropäer, ein Mann, der Aiteuropas Glanz, Würde und Hinfälligkeit noch erfahren hat, Pole und Wiener, ist wie kaum einer befähigt, Neitroy in seiner Zeit zu verstehen und darzustellen. Die überaus verdienstlichen, grundlegenden Nestroy-Forschungen Rommels und Bruckneri liefern die literaturwissenschaftliche Basis für jede Befassung mit Nestroy. Seit Nestroy wieder in Mode gekommen ist, seitdem Karl Kraus 1912 „Nestroy und die Nachwelt“ scharf und eigenwillig beleuchtet hat, reißt der Strom nicht ab. Nestroy hat sich weit über den engeren österreichischen Raum hinaus die Bühne deutscher Sprache erobert. Wobei seine Stücke teilweise in so veränderten Fassungen gespielt werden, daß Nestroy selbst sie mit gemischten Gefühlen besehen und vielleicht die Lust, selbst mitzuspielen, verlieren würde. Dies ist jedoch nicht sicher. Denn: wer kennt sich in Nestroy wirklich aus? Nicht in seinen Stücken, sondern „in“ seiner Person?

Dieser Johann Nestroy ist ja, wie das ganze sogenannte „Biedermeier“, alles eher als „einfach“, durchschaubar. Im Biedermeier ballen sich, in Wien, im alten Österreich vor 1848 und vor 1866, Explosivstoffe, die bis weit über 1914 und 1918 brisant wirken. Es gehört zu dem großen Reiz dieses Nestroy-Werkes, daß Otto Forst de Battaglia nicht versucht, Nestroy, seinen Personkern, aufzuschlüsseln, ihn etwa zu entblättern wie der Knopfgießer in „Peer Gynt“. Forit-Bat-taglia läßt keinen Zweifel darüber, daS der innerste Kern Nestroys ganz uneinsichtig, dämonisch ist. Einmalig, unnach-ahmbar, unvergleichbar. Der geniale Fürst Friedrich Schwarzenberg hat dies wohl als erster angesprochen: „Ich .halte, diesen Nestroy für eine unserer merkwürdigsten dramarischen Erscheinungen, sowohl als Dichter wie als Schauspieler... In Nestroy lebt ein wirklich Shakespearischer Geist, Humor und Witz; ein echter Volksdichter, und ich bin überzeugt, daß die Zukunft mein Urteil bestätigen und ihm einen ausgezeichneten Platz unter den dramatischen Notabilitäten Deutschlands anweisen wird.“

Shakespeare... : Hinter ihm steht das komplexe Gefüge Altenglands, des merry old England, dreihundert Jahre Bürgerkrieg, ein archaischer, zaubergesättigter, volkhafter Untergrund, und eine „governing dass“, die sich ihre literarische Kultur und ihr Theater geschaffen hat. Nestroy: Hinter ihm steht das überaus komplexe Gefüge „Wien“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Forst-Bittaglia kreist die Gestalt, das Phänomen Nestroy nüchtern und liebend ein, ohne es zu versehren, indem er die sehr verschiedenen „Gesellschaften“ schildert, die dieses Wien bilden. Nestroys abgründiger Humor, die Vielschichtigkeit seiner Perion, das Verdeckte in ihm, das sich in seinen 83 Theaterstücken zwischen 1827 und 1862 und in den rund 1000 Rollen, die er gespielt hat, ebenso enthüllt wie verbirgt, ist ein schöpferischer Reflex auf diese „Gesellschaften“. Dieser Johann Nestroy aus polnischem, tschechischem, Wiener Geblüt, ist von Haus aus Bürger, Staatsbürger, Großverdiener, der (mit Hilfe der Marie Weiler) sein Geld zusammenhält; er kennt die großen und die kleinen Leute, in diesem Wien.

Otto Forst-Battaglia kennt, wie wohl kaum ein Lebender heute, die Vielfalt der Nationalitäten, der Stände, der Kasten, die da im Wiener Vormärz die differenzierten und sehr gemischten Gesellschaften „oben“, „unten“ und in Mittelschichten bilden. Nestroy hütet sich, wohl nicht nur mit Rücksicht auf die Zensur, „oben“ anzustoßen. Sein Staatsbewußtsein, seine eigentümliche Religiosität, in der ein hundertjähriger josefinischer und jansenistischer, spezifisch österreichischer Antiklerikalismus in Symbiose lebt mit alter Volksfrömmigkeit, stehen ihm da im Wege. Seine Stücke von 1848 und um 1848 gehören zu dem Schwächsten, was er geschaffen hat. Obwohl, oder vielleicht gerade weil es in seiner näheren und ferneren Verwandtschaft und um seine ersten Frauen an illegitimen Verwandtschaften und Verhältnissen mit niederem und hohem Adel nicht fehlt, weicht er dieser Gesellschaft aus. Sein Revier, die Jasdgcfilde seines Witzes (ein besonders gelungenes Kapitel in Forst-Battaglias Werk), sind nicht eigentlich die Leute vom Stand, sondern das „Volk“, besser: die Völkchen, die das Wiener Volk bilden. Diesem Wiener Volk schenkt Nestroy nichts: Er sagt, er spielt ihm alles ins Gesicht, was da zi offenbaren ist; es ließe sich ein Laster katalog aufstellen, ein Beichtspiegel aucl ür barocke Beichtväter und Prediger, eil Mphabet der Schwächen und Sünden de Menschen, mittels der 73 erhaltend «Jestroy-Stücke. Nicht erhalten ist de iesenhafte Kommentar (wie schade, daß e ür dies kein Tonband gab.'), den Nestroi elbst lieferte, durch seine Darstellung.

Warum haben die Wiener sich das ge allen lassen? Warum haben sie ihn sc ehr geschätzt, geliebt? Selbst seine Kri iker haben sich, nach dem Ausscheider les Moritz Saphir und dessen Neidgenos en Ignaz Jeitteles und Franz Wiest, all nählich an ihn so gewöhnt, bis sie ihr espektierten. Der Wiener Neid, eine Spc ialität, die vielleicht mehr als alles ander« las Böse, Heimtückische in diesem Volks :harakfcr offenbart (worüber man jetzt be inem aufrichtigen deutschen Freunc Österreichs, bei Golo Mann, in seinei .Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert' lachlesen kann), hat bekanntlich so vieli ichtbare Talente hier verdorben. Diesei Viener Neid hätte Nestroy gern ver-chlungen — Forst-Battaglia vergleicht ihr nit einer Pathonschlange (S. 83). Nestro} tat ihn überwunden. Wie gelang ihm dies! Ind das und das andere: daß ihm „seine' Viener, um es deutsch zu sagen, das alle; .abnahmen“, was er ihnen allabendlicl •orsetzte? Nun, die Wiener haben es docl legriffen: Der Johann Nestroy, der ihn er Uli den Mund, ins Kerz und ins Hirn ge chau hat, hat sie geliebt.

Nestroy selbst ist mit sich selbst unc nit den Wienern fertiggeworden, vor allen lurch seinen unermüdlichen Arbeitseifer (ein Mißerfolg eines Stückes ließ ihn er nüden. Forst-Battaglia schildert sehr ein-Irucksam die strenge Arbeitsdisziplin Ne troys, sein Sammeln von Stoffen, di< Ökonomie seines Lebens. Die vielen „Bekanntschaften“, die Flucht in den Sexus eigen, wie sehr dieser Johann Nestroy dei .Aushilfe“ bedürftig war. Sein Dämor lättc ihn ins Narrenhaus oder in der Cerker bringen können, oder in den Selbstnord: wenn er sich nicht „lösen“ hätte tonnen in seinem Schaffen, in seinem Ge-taltcn. Gerade in dieser Dimension stehl ,der Wiener Aristophancs“, Nestroy, Sha-lespeares Gestalten nahe.

Nach Nestroy kommt: die Katastrophe on 1866, die Schleichwege ins Chaos.

Nietzsche hat sie bei seinen Deutschen angesprochen und gemeint, daß die Deutschen besonders erfinderisch seien im Finden neuer Schleichwege ins Chaos. Nestroy hat einige dieser Schleichwege in Wien gesehen und angesprochen. Vor der Psychoanalyse.

Das heimliche und unheimliche Wesen in Wien um den Johann Nestroy: Otto Forst de Battaglia hat es in dieser seiner Sitten-, Kultur- und Geistesgeschichte, die zugleich eine soziologische und politische Studie ist, dargestellt. In einer Sprache, die eigentümlich diese Bürger, Beamten, Handwerker, kleinen Leute, diese Wiener reflektiert. In ihrer Ironie, ihrer gelegentlich umschweifenden Art, in der knappen Härte letzter Urteile, ist sie nicht äußerlich, aber innerlich Johann Nestroy zugewandt. So ist dieses bedeutende Werk nicht nur das Ncstroy-Buch, das jeder zur Hand nehmen muß, der Nestroy kennenlernen will, sondern auch ein „Merk's Wien“; ein Dokument der Liebe zu Wien und zu Österreich, so aufgeklärt, so nüchtern, wie sie gerade den jungen Österreichern not tut. Das ist nicht zuletzt die politische Bedeutung dieses „Nestroys“: Er kann gebildeten und ungebildeten Verächtern des Österreichers zeigen, wie beachtenswert, ja wie liebenswert „Leut“ sein können, die so sind, wie sie der Johann Nestroy gesehen und auf die Bühne gebracht hat.

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