Die Stadt der Blinden - © Foto: Moritz Schel
Theater

Saramagos radikale Dystopie, farblos inszeniert: "Die Stadt der Blinden"

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Christine Ehardt über José Saramagos Meisterwerk „Die Stadt der Blinden“ am Theater in der Josefstadt.

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Christine Ehardt über José Saramagos Meisterwerk „Die Stadt der Blinden“ am Theater in der Josefstadt.

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José Saramagos Meisterwerk „Die Stadt der Blinden“ ist „ein gewalttätiges Buch über das Ende der Gesellschaft“. So hat es jedenfalls der portugiesische Literaturnobelpreisträger selbst formuliert.

Ein Roman voll drastischer Bilder über menschliche Abgründe und eine stimmungsvolle Parabel über das Unvermögen, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Ausgangspunkt seiner dystopischen Geschichte ist der Ausbruch einer Seuche. Menschen verlieren plötzlich das Augenlicht. In ihrem Kampf ums Überleben verlieren sie aber auch ihren Sinn für Menschlichkeit. In der aktuellen Inszenierung des Werkes für das Theater in der Josefstadt fügt Regisseurin Stephanie Mohr nun noch Parallelen zur gegenwärtigen Corona-Pandemie hinzu.

Die Straßenampel im Bühnenhintergrund ist schon vor Beginn der Aufführung auf Gelb geschaltet – oder ist es die Corona-Ampel, die hier zum Einsatz kommt? Ein Mann erblindet und wird von der mitfühlenden Menschenmenge nach Hause begleitet. Doch immer mehr erkranken, das Mitgefühl schwindet und Angst greift um sich.

Alle Infizierten werden in eine zur Quarantänestation umfunktionierte Irrenanstalt verfrachtet. Dort herrschen bald menschenunwürdige Zustände. Verwahrlosung, Vergewaltigung und Verzweiflung greifen um sich. Zurückgeworfen auf niedere Instinkte bleibt es an der einzigen Sehenden (Sandra Cervik), für Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen. Dazwischen gibt ein smarter Bundeskanzler eine kurze Pressekonferenz zur Lage der Epidemie. Das sorgt für Erheiterung und ist wohl als Kritik an der aktuellen Krisenpolitik der Regierung zu werten, verwässert aber die Aussage des Stückes.

Überhaupt wirken die bemüht konstruierten Querverweise zwischen Roman und Realität zu plakativ und vorhersehbar. Insgesamt ist die Bühnenfassung von Thomas Jonigk aber gut gelungen und bringt in knapper Form die wesentlichen Inhalte der Buchvorlage zum Ausdruck. Das Geschehen auf der in kaltes Licht getauchten Bühne ist weniger zu sehen als zu hören, es wird als Monolog, im Chor oder über Lautsprecher erzählt.

Das bringt Saramagos eigenwillige Sprache, die immer wieder die Perspektive wechselt, gut zur Geltung. Im zweiten Teil des Abends verlassen die Blinden die Anstalt und kehren in ihre Stadt zurück. Als apathische Kinderschar stolpert die Gruppe nun durch das devastierte Bühnenarrangement, bis endlich die erhoffte Gesundung erfolgt und (fast) alle wieder sehend werden. Der Verfall demokratischer Werte und die Radikalität, mit der Saramago Kritik an der Gesellschaft übt, kommen in dieser Aufführung nicht zum Ausdruck.

Das mit weißer Farbe beschmierte Ensemble agiert zurückhaltend und farblos. Verhaltener Applaus am Premierenabend für eine ebensolche Inszenierung.

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