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Tragik und Sendung des deutschen Theaters

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Es ist eine eigenartige Tragik des deutschen Theaters, daß man den Zerfall der Ensembles in dem Augenblick beklagen muß, da nur das Ensemble die Rettung aus einer fast ausweglosen Situation bringen kann. Wenn man weiß, wie schlecht das Theater deutscher Sprache heute in aller Welt im Kurs steht, wäre es doch vielleicht angebracht, einmal zu erforschen, wie denn diesem Zerfall der Ensembles zu begegnen sei. Denn daß im Gegensatz zu früheren Zeiten etwa die deutschen illustrierten Zeitschriften kaum Notiz davon nehmen, wenn eine heute immerhin wichtige Kunststätte wie das Düsseldorfer Schauspielhaus mit einem so attraktiven Schauspieler wie Gustaf Gründgens in der Hauptrolle das „Herrenhaus“ von Thomas Wolfe zur Aufführung bringt, ist ein wichtiges und noch nicht einmal das wichtigste Symptom für eine mangelnde Anteilnahme und für ein mangelndes Interesse, das sich nach und nach bemerkbar macht, wo immer vom deutschen Theater geredet wird.

Mit dem Star als alleinigem Aufführungsträger ist heute nichts mehr zu machen. Das Publikum ist skeptisch geworden, einen Theaterabend allein auf die Sensibilität eines einzelnen Menschen gestellt zu sehen. Das Publikum will heute Stücke und Aufführungen sehen. Deshalb die Triumphfahrten von drei vollendeten Ensembles: Jean Vilars Theätre National Populaire, das Theater von Jean-Louis Barrault und das Piccolo-Teatro von Mailand. Allen drei Theatern ist eines gemeinsam, was das deutsche Theater heute so selten aufzuweisen hat: ein Stil. In Deutschland und auch in Oesterreich glaubt man heute, daß 70 oder 80 Besitzer von Zwölfmonatsverträgen schon ein Ensemble sind. Dabei ist ja erst die gestaltende Idee das, was eine Spielgemeinschaft zu einem Ensemble macht.

Man kann psychologisch, emotionell oder formalistisch Theater spielen. Aber jedes Theater muß sich für einen ganz bestimmten Weg entscheiden. Nur die Persönlichkeit eines ganz starken Theaterleiters verbürgt heute überhaupt noch die Möglichkeit, ein Theater als Manifestation eines Ausdruckswillens bezeichnen zu können. Und hier beginnt eigentlich schon die Tragödie. Denn im Gegensatz zu früheren Zeiten — noch Reinhardt brauchte für eine große Inszenierung im Anfang seiner Laufbahn nicht mehr als drei Wochen — ist heute die Präzision die erste Forderung, die an eine moderne Theateraufführung gestellt wird. Seit wir erlebt haben, was Chaplain mit der Präzision seines Handwerks erreicht hat, ertragen wir keine Aufführung mehr, die auch nur im kleinsten Detail nicht eine maschinelle Präzision aufweist. Als wir früher vernahmen, daß ausländische Theater ein halbes Jahr an einer Aufführung probieren, konnten wir uns gar nicht vorstellen, wie sich diese Probenarbeit im Detail gestaltet. Heute wissen wir, daß eine Vorbereitung von weniger als acht Wochen nicht mehr genügt, um eine Inszenierung in modernem Sinne herauszubringen.

Und hier klafft leider eine beträchtliche Differenz zwischen der Notwendigkeit einer solchen minutiösen Vorbereitung und der Auswertungschance für eine Inszenierung. Sechzig Aufführungen sind heute schon eine hohe Ziffer, während natürlich ein ökonomisches Resultat nur dann erzielt werden könnte, wenn acht Wochen Proben etwa vier Aufführungsmonaten entsprächen. Das wäre aber nur zu erreichen, wenn die Theater sich endlich entschließen könnten, ihr etwas starres System zu lockern und wertvolle Aufführungen auszutauschen. Selbstverständlich gilt diese Notwendigkeit nicht für die Provinz. Der Schauspieler eines mittleren Tneaters, der sich im Anfang seiner Laufbahn befindet, muß alle Rollen seines Faches spielen, er muß sich auch durch das ganze moderne Repertoire hindurchspielen, er braucht eine Rolle im „Godot“ ebenso zu seiner Entwicklung wie etwa den Mephisto. Aber dort, wo Spitzenleistungen gefordert werden, wie etwa in Städten wie Wien, München, Berlin, wo also nur die Idealbesetzung einer Rolle tragbar ist, sollte mit diesem Austausch Ernst gemacht werden.

Ein europäisches Theater könnte existieren, wenn jedes Land das zur Verfügung stellen würde, worin seine ganz besondere Stärke liegt. Genau so, wie die französische Küche der englischen vorzuziehen ist, wie man in Italien schöner baut als in Deutschland, in Frankreich besser malt als in Oesterreich, müßten die einzelnen Länder erkennen, wo Stärken und Schwächen ihrer nationalen Eigenschaften liegen.

Das deutsche Theater hat sehr viel durch diese peinliche Neigung zur Restauration, die sich überall bemerkbar macht, verloren. Wenn man sieht, wie im szenischen Bild die Avantgarde der heute 80jährigen Meister der abstrakten Malerei im Ausverkauf ausgeschrottet wird, so ist man verzweifelt, zu sehen, daß diese Versuche, die in den Jahren 1920 bis 1930 fällig gewesen wären, jetzt nicht mehr ganz termingerecht nachgeholt werden. Da die abstrakte Malerei sich in Deutschland und Oesterreich später als in der übrigen Welt durchgesetzt hat, war das Theater in den zwanziger Jahren stärker von den konstruktiven Ideen eines Schlemmer und eines Mo- holy-Nagy als von den Kunstprinzipien der abstrakten Malerei beeinflußt. Und so berührt es erstaunlich, daß mancher Bühnenbildner und mancher Regisseur, der in den letzten Jahrzehnten zu einem absolut persön-

liehen Stil gefunden hat, heute wieder da anknüpft, wo eine Entwicklungsstufe längst zu Ende gegangen ist, nämlich an die malerische Epoche der ersten zwei Dezennien dieses Jahrhunderts. Gerade diese etwas kindliche Vermengung von Stilprinzipien, dieser falsche Avantgardismus, diese Tendenz, um jeden Preis das nachzuholen, was man durch das Verdikt eines politischen Zwangsregimes zu überspringen sucht, oder was sich zu einem Zeitpunkt, wo es lebendig war, nicht auswirken durfte, das drückte dem Theater deutscher Sprache jenen Stempel der Unsicherheit, jenes Stigma des Verschmockten und Verquälten auf.

Heute, da es darauf ankäme, sich von der Diktatur des emotionellen Theaters ebenso wie von den Künsten reiner Stilspielerei zu befreien, bringt das deutsche Theater in völliger Verkennung seiner noch existenten absoluten Werte Modisches aus zweiter Hand. Das deutsche Theater müßte heute wieder bei Lessing anfangen und von dort aus beginnen, klug, unchaotisch Theater zu spielen, der Bühne die Fabel und das Gleichnis zurückzuerobern, geistige Wahrheiten in Parabelform erzählen. Nur wenn es diesen geistigen Weg geht, diesen Weg, der sich nicht damit begnügt, eine formale Theorie darzubieten, sondern der Bühne eine esoterische Gleichniswelt erschließt, wie es dem großen Theater aller Epochen eigen war, dann könnte auch das Theater deutscher Sprache wieder seinen führenden Platz in der Welt finden und behaupten.

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