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Unbekanntes Theater

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Es ist interessant, zu verfolgen, in wie hohem Maß die moderne Theaterliteratur von den alten Mythenstoffen der mittelalterlichen Sage, der Bibel und insbesondere der Antike angeregt wird. Und dieser Entwicklung auf dem Gebiet der Thematik entsprechen ähnliche Tendenzen im Darstellungsstil. Der „Ansager“ ist nicht nur die moderne Version des griechischen Chors, er findet sich auch ähnlich in den Mysterienspielen. Die Figuren stellen immer mehr nicht Einzelschicksale dar, sondern sollen etwas Uberpersönliches, Typisches ausdrücken. Zugleich mit dem illusionistischen Bühnenbild wird der statische Raum angegriffen; der neue Geistraum, der angestrebt wird, ist nicht nach Entfernungen, sondern nach Beziehungen verschiedener .Energie zu „messen“. Hiezu hilft die stärkere Einbeziehung der Musik ins Bühnengeschehen als bewegendes rhythmisierendes Element, auch hierin Abkehr von naturalistisch-materialistischer Greifbarkeit.

Um so erstaunlicher ist es nun, daß die Gestalter des modernen Theaters bisher fast völlig an einer großen Bühnentradition vorbeigegangen sind, die vielen der gerade heute gesuchten und verfolgten Tendenzen entgegenkommt, ja sie teilweise sogar vorwegnimmt: die dramatische Kunst Alt-Indiens. Was ist dem heutigen Publikum — und auch den Fachmännern — von dieser Fundgrube blühenden Theaters bekannt? Wenn überhaupt etwas, so Kalidasas „Sakun-tala“ und äußerstens noch „Vasantasena“, das Werk des Dichterkönigs Sudraka. Aber unzählige große und reiche Stücke wurden in der Hochblüte der Sanskritliteratur zwischen dem 1. und 8. Jahrhundert n. Chr. geschrieben. Die Aufführungen mögen am ehesten denen des elisabethischen Barocktheaters zu vergleichen sein, denen sie jedenfalls näherstehen als der antiken Tragödie (R. K. Yajnik: „The Indian Theatre“, London 1933). Es wurde, ungleich Griechenland, in geschlossenen Häusern gespielt. Die Bühne bestand meist aus einer niedrigeren Vor- und einer rückwärtigen Oberbühne, eventuell durch einen Zwischenvorhang getrennt. Ein illusionistisches Bühnenbild gab es nicht, lediglich ein stehendös Decor (= Schmuck) des Bühnenraums und einige wenige auswechselbare Versatzstücke. (Dies scheint zumindest der verbreitetste Usus gewesen zu sein.) Im Gegensatz zu den tagelangen öffentlichen Veranstaltungen Athens waren die indischen Aufführungen ein höfisches Abendvergnügen — dauerten allerdings vier bis fünf Stunden —, und die Atmosphäre mag nicht unähnlich gewesen sein der einer Aufführung vor der Hofgesellschaft Ludwigs XIV.

Auffallend sind verschiedene Parallelen zur modernen Bühnenentwicklung des Westens. So ist es klassischer Brauch, daß nach dem Eröffnungsgebet der „Schauspieldirektor“, ähnlich dem modernen „Spielleiter“, die Bühne betritt und zusammen mit einem Ensemblemit-giied das Stück einführt und kommentiert; ja es kommt sogar vor, daß mitten im Spiel in eine andere „Bewußtseinsebene“ gewechselt und ein Schauspieler als solcher apostrophiert wird. Auch die moderne Auflehnung gegen unser klassisches Pathos, die Art, über hochgeistige und religiöse Probleme gleichsam mit der Hand in der Hosentasche zu sprechen, hat in Indien ihr Gegenstück: die selbstverständliche Verbundenheit dieses metaphysischen Volkes katexochen mit dem spirituellen Bereich, führt dort zu einer ähnlichen Nonchalance. Dieser Abkehr vom geistigen Pathos (Wilder sagt: .Shakespeare konnte noch Tragödien schreiben; wir können nur noch Witze machen.“) geht aber merkwürdigerweise eine Abkehr vom Naturalismus parallel und das Streben nach neuem erfülltem Symbolgehalt wiederum eine Beziehung zu dem symbolistischen, antinaturalistischen (deshalb aber keineswegs unnatürlichen) Stil des Sanskritdramas.

Gegenüber der bei uns üblichen psychologischen Darstellung sind die drei Hauptkomponenten der indischen Bühnenkunst die ausdrucksvolle (tänzerische) Geste, Musik und lyrische Rezitation. Ihre Rolle ist um so wichtiger, als es kein illusionistisches Bühnenbild gibt. So muß das Wort Visionen hervorrufen von dem, was das Auge nicht sieht; wird durch Musik und den Einsatz des Körpers der Bühnenraum rhythmisch bewegt, gleichsam variabel, nicht durch statische Entfernungen, sondern durch Spannung und Beziehung bestimmt — also jener „Geistraum“ als Rahmen unnaturalistischer Ausdruckskunst, wie ihn auch zumindest eine Richtung modernen Bühnenschaffens erstrebt.

Freilich ist mit dieser Kennzeichnung des indischen Stils auch bereits einer der grundlegenden Unterschiede zwischen dem orientalischen und dem westlichen Theater gegeben: psychologische Charakterisierung etwa im Sinne Shakespeares ist Kalidasa und Bhavabhuti fremd — es fehlt dem Osten der abendländische Persönlichkeitsbegriff. Es fehlt ihm damit aber die Voraussetzung für die echte Tragödie, wie sie seit den Tagen Aischylos' die Bühne des Westens beherrscht. Das Dissonante und Tragische erscheint nicht als wesensmäßiger Konflikt, sondern als Unvollkommenheit. Am Ende steht immer die Erfüllung, die Harmonie. Nur ihr Sieg kann ein Spiel als sinnvoll, als höhere Wahrheit erscheinen lassen. Das Streben nach innerer Harmonie drückt sich auch in einem anderen Gesetz der altindischen Bühnenkunst aus. So wie vom klassischen westlichen Drama die intellektuelle Dreiheit, die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, verlangt wird, so sind für die indischen Theatervorschriften die „Stimmungen“ (r a s a s) das Wichtigste. Jedes klassische Stück soll alle neun rata enthalten — den rasa der Liebe, den heroischen, den tragischen (leidenden), den schrecklichen, den komischen (grotesken), den grauenhaften, den widerwärtigen, den wunderbaren und den friedvollen —, aber so, daß jeweils ein rasa vorherrscht und den Charakter des Stückes bestimmt.

Die Pflege der ausdrucksvollen Geste hat ihren Ursprung in der Religion, bei deren Ausübung magische Gesten (m u-dras) eine bedeutende Rolle spielten. Diese m u d r a s fanden ihre künstlerische Vollendung in der buddhistischen Kunst als symbolische Handstellungen des Buddha. Der Kathakalitanz, der insbesondere an der Malabarküste in Südindien gepflegt wird, hat aus der religiösen Symbolik der mudras eine Gebärdensprache für die Bühne entwickelt. Es werden von den maskierten Tänzern schwierige Handlungen und nuancierte Gefühle in hoher künstlerischer Vollendung, freilich auch in einem traditionell erstarrten Schema dargestellt (G. Ven-katachalam: „Dance in India“, Bombay 1944). Und so ist wohl überhaupt die Bühnenkunst Indiens von einer so festen Tradition beherrscht, daß eine organische Weiterentwicklung zu neuen Formen sehr schwer ist — das Problem ganz Asiens in seiner Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur.

Während nun Asien dauernd vor der Alternative steht, mit der Annahme des westlichen Fortschritts seine eigene Tradition zu verleugnen, kann Europa wohl Bereicherung in einer fremden und in ihrer Art sehr vollkommenen Welt suchen, ohne Gefahr zu laufen, die Früchte seiner enormen Vorwärtsentwicklung — seine Freiheit, seinen Individualismus, seine Beherrschung der Naturenergien — zu verlieren. Und vielleicht weiden wir feststellen, daß diese andere Welt uns in vielem gar nicht so fremd ist, ja daß in ihr auf einer anderen Ebene und in einer anderen Sprache manche Antworten auf unsere Fragen beschlossen sind. Wir müssen sie nur übersetzen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß die „Osterreichische Kulturvereinigung“ im Mai im Schönbrunner Schloßtheater eine Aufführung des klassischen Liebesdramas „Malati und Mad-hava“ veranstaltet, welches damit zum erstenmal auf einer europäischen Bühne gezeigt wird.

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