Vielfalt, Gender & Inklusion auf Wiens Theaterbühnen
In Wien fand vergangenes Wochenende der zweite Teil des Premierenreigens der beiden größten Bühnen der Bundeshauptstadt statt.
In Wien fand vergangenes Wochenende der zweite Teil des Premierenreigens der beiden größten Bühnen der Bundeshauptstadt statt.
Den Auftakt der zweiten Premierenrunde machte am Donnerstag auf der großen Bühne des Burgtheaters Nicholas Ofczarek. Wohl nicht ganz zufällig im 40. Jahr nach dem Erscheinen brachte er begleitet vom Musikensemble Musicbanda Franui Thomas Bernhards „Erregung“, so der Untertitel von „Holzfällen“, in einer Lesung zu Gehör. Zu Erinnerung: Ein Ich-Erzähler beobachtet aus der sicheren Distanz eines Ohrensessels als geladener Gast der auersbergischen Abendgesellschaft die Menschen und Vorgänge um sich herum. Man hat sich in der großbürgerlichen Wohnung nach dem Begräbnis der durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Bewegungskünstlerin Joana eingefunden und erwartet nun die Ankunft eines großen Burgtheaterschauspielers, der noch den Ekdal in Ibsens „Wildente“ gibt. Schnell sinniert sich der Beobachter in Rage über die Lebenslügen und Defekte der anderen Gäste des künstlerischen Abendmahls, sodass sie ihm zum eigentlichen Gegenbild einer verlorenen Welt werden. Bernhard hatte die mit Häme und beißendem Spott überschüttete Gesellschaft aber so unverhohlen realitätsnah geschildert, dass sich so manch ein Zeitgenosse von 1984 in der literarischen Denunziation erkannt fühlte, was nach dem Erscheinen des Buches zu einem der größten Literaturskandale der Zweiten Republik führte. Von dieser Erregung ist heute nichts mehr zu spüren.
Umso mehr spürt man aber – vermittelt durch die Vortragskunst von Ofczarek – die unbändige Lust des Autors Thomas Bernhard, die imaginär beobachteten und – wer weiß – vielleicht real gemeinten Figuren verbal zu zerlegen. Und er findet in Nicholas Ofczarek einen überaus willigen Vollstrecker. Obwohl dessen Stimm-Gebärden nur schwer beschreibbar sind, hat man den Eindruck, als wolle er mittels Drehen, Halten und gutturalem Wenden der Silben und Worte im Mund sein sinnerfassendes Ablesen des Textes beim Deklamieren und Rezitieren gleichsam verdoppeln und über die bloße Kommunikations-, Darstellungs- und Ausdrucksfunktion hinaustragen. Man könnte diese Vortragskunst mit der „sprießenden Wirkung“ bezeichnen, von der Roland Barthes in seinem berühmten Aufsatz „Die Körnung der Stimme“ spricht, in dem es um jene Bedeutung aus dem Innersten der Sprache und ihrer eigentlichen Materialität geht. In diesem Zusammenhang ist auch das Duett mit der kongenialen Musik des zehnköpfigen Franui-Ensembles zu verstehen: als Simultaneität von mehreren Stimmdimensionen, als Vervielfachung jenseits des propositionalen Gehalts des Gesagten.
Kreisel der Überempfindlichkeit im Akademietheater
Tags darauf konnte man im Akademietheater die „Vielfalt“, die der neue Direktor der Burg statt eines Mottos ausgerufen hat (siehe FURCHE Nr. 37, S. 13), gleich in mehrfachem Sinne überprüfen. Denn die aus Köln mitgebrachte und für Wien neu überarbeitete Inszenierung der „Überschreibung“ von Molières „Der eingebildete Kranke“ durch Barbara Sommer und Plinio Bachmann „setzt die Figuren in einen Kreisel der Überempfindlichkeit des 21. Jahrhunderts“, wie es im Programm heißt.
Damit ist gemeint, dass der eingebildete Kranke von 1673, der durch seine selbstbezogene Überempfindlichkeit die Umwelt tyrannisiert, in der Überschreibung nun zur Sensibilität einer ganzen zeitgenössischen Gesellschaft aktualisiert wird. Das sieht dann so aus: Die Flatulenz, das Klistier und die Stuhlkonsistenz bleiben die Lieblingsthemen des Stückes, erfahren aber Konkurrenz durch die genderfluide Besetzung einerseits und den Text sowie das verfremdete Spiel der Figuren andererseits. Es drängen sich so aktuelle Debattenthemen um politische Korrektheit, gewaltfreie Kommunikation, gendersensible Sprache mit neu geschaffenen Gender-Pronomen und Inklusionssprech etc. in den Vordergrund. So will Argans Tochter Angélique (Paul Basonga), sich endlos wiederholend, niemanden „emotional erpressen“. Ihr heimlicher Geliebter und Schauspiellehrer Cléante, den die virtuose Lola Klamroth als jungen Mann mit Drahtbrille und Flaum um den Mund spielt und dessen Achtsamkeit ihm nervöse Zuckungen nahe dem Tourette einbringen, will sich erst die Ansprache als „Mein Herr“ verbitten. Dann möchte er „niemals jemanden bedrängen“, immerfort „sicheren Raum schaffen“ und selbstverständlich setzt er „Hen, Hyn und Ham als Pronomen für Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität“ voraus.